Oscar-Verleihung 2008:Das große Staunen

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Am Sonntag werden in Los Angeles die Oscars verliehen - und die Welt rätselt, wer mit einem Academy Award geehrt wird. Noch bleibt genug Zeit für Spekulationen.

Tobias Kniebe

Wirklich durchschaubar war der Oscar noch nie. Was hinter seiner harten Stirn, seinen leeren Augen und seinem verkniffenen Goldmund vorgeht, gibt Hollywood und dem Rest der Welt seit nunmehr achtzig Jahren Rätsel auf - und oft genug schien es so, als habe er endgültig den Verstand verloren. Da er als Preis für den kollektiven Willen von mehr als 5800 Mitgliedern der Academy of Motion Picture Arts and Sciences steht, könnte man auch von Schwarmintelligenz sprechen - oder eben von Schwarmdummheit.

Wer wird eine Statue mit nach Hause nehmen? Besucher konnten für einen kurzen Augenblick dem Oscar ganz nahe sein. (Foto: Foto: Reuters)

Wobei sich in letzter Zeit der Eindruck aufdrängt, dass er von Jahr zu Jahr wenn nicht klüger, so doch realistischer wird. Denn am Ende der diesjährigen Preisverleihung, die nach langem Streik-Gezitter nun in der Nacht von Sonntag auf Montag über die Bühne gehen darf, wird aller Voraussicht eine klare Erkenntnis stehen: Dass Amerika als Land und als Idee eben doch auf Gewalt gegründet ist - und dass seine besten Filmemacher gar nicht anders können, als immer wieder davon zu erzählen.

Ein Sieg der Brüder Joel und Ethan Coen, die mit ihrem Neo-Western "No Country for Old Men" als Favoriten für den Besten Film und die Beste Regie (nur unter anderem) ins Rennen gehen, wäre der Beweis dafür. Studien der Gewalt prägen einen Großteil ihres Schaffens, aber diesmal haben sie ein Werk des amerikanischen Apokalyptikers Cormac McCarthy verfilmt, das noch einmal eine neue Dimension ihrer Kunst zum Vorschein bringt.

Weg vom Gutmenschen

Ein Koffer mit zwei Millionen Dollar, der nach einem tödlich gescheiterten Drogendeal herrenlos in der texanischen Wüste liegt, löst einen derart grausamen Kampf unter Männern aus, dass es bald nur noch ums nackte Überleben geht. Und mittendrin agiert der Spanier Javier Bardem, als Killer mit der brutalsten Frisur und der brutalsten Mordwaffe seit langem, der nun auch als todsicherer Tipp für den besten männlichen Nebendarsteller gilt.

Die Alternative zu den Coens wäre mindestens genauso düster. Paul Thomas Andersons "There Will Be Blood", gerade bei uns in den Kinos gestartet, ist nicht weniger faszinierend und nicht weniger pessimistisch. In der Welt der frühen Ölbarone erzählt er von den archaischen Triebkräften des Erfolgs, die irgendwann in Hass und Selbstzerstörung umschlagen müssen.

Trotz seiner Nominierungen als Regisseur, Produzent und Autor wird Anderson wohl zweiter Sieger bleiben - auch weil die Kollegen vielleicht der Meinung sind, er habe noch alles vor sich, er mache sich als großer Filmemacher gerade erst warm. Seinem Star Daniel Day-Lewis, dessen Intensität auf der Leinwand die Amerikaner gleichermaßen fasziniert wie verstört, wird der Preis für den Besten Hauptdarsteller allerdings kaum zu nehmen sein.

Es sei denn, George Clooney hätte in letzter Minute noch mächtig aufgeholt. Im Feld der nominierten Filme verteidigt er mit dem Anwaltsthriller "Michael Clayton" das Revier des klassischen Filmstars, den das Publikum wirklich lieben kann - wenngleich sein Film auch keine erfreulichen Erkenntnisse über die Profitgier der Großkonzerne formuliert.

Eine totale Außenseiter-Überraschung schließlich wäre ein Sieg der Schwangerschaftskomödie "Juno": der einzige Feelgood-Film im Kandidatenfeld, der einzige Publikumshit - und doch so verschroben, dass ihn auch die amerikanischen Kritiker ins Herz schließen konnten. Hier ist die 29-jährige Autorin Diablo Cody, die ein farbenprächtiges Vorleben als Stripperin vorweisen kann, der Tipp für den Drehbuch-Oscar.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wer zum 20. Mal für einen Oscar nominiert ist.

Der britische Edellangweiler "Abbitte - Atonement" schließlich, der einzige Film, den man früher als klassischen Oscar-Anwärter gehandelt hätte, gilt bei den Buchmachern inzwischen als chancenlos. Und gänzlich abgekoppelt vom Hauptrennen hat sich die Konkurrenz der Frauen, die schwer einzuschätzen ist: Julie Christie oder Marion Cotillard? Cate Blanchett oder Tilda Swinton? Da streiten sich die Experten.

Alles in allem aber machen die Oscars einen anhaltenden Wandel durch - weg von Gutmenschen und Heiligenfiguren wie Gandhi, Oskar Schindler oder Forrest Gump, die früher alles abgeräumt haben, hin zu den interessanteren, zwielichtigeren Stoffen. Ein Sieg für die Coens oder Anderson wäre, nach "Million Dollar Baby", "L. A. Crash" und "The Departed", bereits die vierte Bestätigung in Folge, dass die Academy dem Happy-End, dem Kino als Trutzburg der Erbaulichkeit und als kollektivem Seelentröster inzwischen abgeschworen hat. Wenn man diesen Trend noch umkehren wollte, würde es jetzt langsam Zeit - insofern kann 2008 durchaus als eine Richtungsentscheidung gelten.

Andererseits: Warum sollte Hollywood ausgerechnet in einem Jahr und einen Land, das so verzweifelt nach "Change" verlangt, dass es entweder auf einen schwarzen oder auf einen weiblichen Präsidenten zusteuert, noch in die abgenutzten Muster der Vergangenheit zurückfallen? Das wäre ja wohl ein bisschen sehr unzeitgemäß.

Größere Freiheit vom Massengeschmack

Nein, die Oscars reflektieren eine Entwicklung in der Filmindustrie, die wohl unumkehrbar geworden ist - die zunehmende Kluft zwischen der globalisierten Blockbuster-Fabrikation und der Produktion eines Kinos, das man, wie vage auch immer, noch als "ernstgemeint" bezeichnen könnte. Nichts hat die Academy in der Vergangenheit so sehr geliebt wie die Momente, wo sie - wenigstens einen Abend lang - hier eine Einheit behaupten und "Titanic", dem erfolgreichsten Film aller Zeiten, noch elf Oscars hinterherwerfen konnte. Solche Filme werden aber gar nicht mehr gemacht: Die Studios jagen längst den schnelleren, härteren Kicks für die Teenager hinterher.

Die Suche nach Qualität haben sie an ihre Arthouse-Divisionen ausgelagert, die zwar keine Independents sind, sich aber immer noch als Außenseiter im System fühlen. Sie produzieren mit kleineren Budgets für ein kleineres Publikum - außer "Juno" hat keiner der Best Picture-Nominierten wirklich viel Geld eingespielt -, behaupten aber auch eine größere Freiheit vom Massengeschmack.

Sind die tränenreichen und herzbewegenden Oscar-Zeiten, wo angeblich noch Milliarden Zuschauer vor den Bildschirmen mitfieberten, also aus und vorbei? Vielleicht. Kleinere Dramen, auf die man sich während der Verleihung freuen kann, gibt es aber immer.

Die Frage zum Beispiel, ob der Moderator Jon Stewart, durch die streikbedingt knappe Vorbereitungszeit, jetzt wilder denn je improvisieren muss; ob die seltsame Nominierungspolitik beim Foreign Language Film nun tatsächlich den ersten Oscar für das Land Österreich bedeutet, mit einem Sieg für Stefan Ruzowitzkys "Fälscher"; ob wohl jemand auf die Bühne kommt, wenn der große Schnittmeister "Roderick Jaynes" aufgerufen wird - hinter dem Pseudonym verbergen sich wiederum die Coen-Brüder; und ob schließlich der größte Oscar-Pechvogel aller Zeiten endlich Erlösung erfährt: Sollte der krachende und dröhnende "Transformers" diesmal nicht für die Beste Tonmischung gewinnen, dann hätte der Soundmann Kevin O'Connell zum zwanzigsten Mal verloren.

© SZ vom 23./24.2.2008/kur - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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