Oper Stuttgart:Märchen eines Eingesperrten

Lesezeit: 2 min

Das Haus hält zu seinem Regisseur Kirill Serebrennikow, der seit vier Wochen unter russischem Arrest steht.

Von Josef Kelnberger

Lachend fegen Hänsel und Gretel den Staub von den Wänden ihrer Lehmhütte. Die aufgewirbelten Staubkörner vollführen einen furiosen Tanz der Freiheit in den Sonnenstrahlen, die durch Risse in der Decke brechen. "Ein magischer Moment", sagt der Regisseur Kirill Serebrennikow.

Serebrennikow war am Dienstag bei der Pressekonferenz in der Stuttgarter Oper leider nur in einer kurzen Sequenz aus dem Film zu erleben, den er bereits im April als Teil seiner Inszenierung von "Hänsel und Gretel" gedreht hat. Eigentlich sollte der international gefeierte Russe seit Montag die Proben für seine Neuproduktion der Märchenoper leiten, die am 22. Oktober Premiere hat. Doch der russische Staat hält den Regisseur seit vier Wochen in Moskau unter Hausarrest. Die offizielle Begründung: Veruntreuung öffentlicher Gelder am Gogol-Theater. Der offensichtlich wirkliche Grund: Man will einen regierungskritischen Künstler mundtot machen.

Der Intendant setzt das "Hänsel und Gretel"-Projekt im Geist des russischen Künstlers um

Man kann nur vermuten, dass Serebrennikow in seiner Wohnung Staubkörnern zusieht, die einen Tanz der Freiheit aufführen. Er darf täglich zwei Stunden spazieren gehen, mehr erlaubt ihm die Justiz nicht. Die Verantwortlichen der Stuttgarter Oper dürfen nur über einen Anwalt mit ihm kommunizieren. Sie wollen Engelbert Humperdincks Oper nun in Serebrennikows Geist aufführen. Wie Intendant Jossi Wieler am Dienstag erklärte, wird der Titel lauten: "Hänsel und Gretel. Ein Märchen von Hoffnung und Not, erzählt von Kirill Serebrennikov". Die Oper wird unverhofft zum ganz realen Lehrstück über künstlerische und persönliche Freiheit.

Intendant Wieler und sein Team arbeiten an einer Inszenierung, die den Stand des Serebrennikow-Projekts widerspiegelt. Es gehe um einen "Erzähler, der in seiner Erzählung unterbrochen wird", sagt Produktions-Dramaturgin Ann-Christine Mecke. Sie hat mit Serebrennikow am begleitenden Filmprojekt gearbeitet, das zeigt, was sich der Regisseur vorgenommen hatte: eine Kombination verschiedener Kunstformen, eine multimediale Oper zum Thema Migration.

Die Filmdarsteller von "Hänsel und Gretel" wurden gecastet in Ruanda, gedreht wurde der abendfüllende Film zur Hälfte in Afrika, zur Hälfte in Stuttgart. Der Rohschnitt ist fertig, zudem gibt es einen Making-of-Dokumentarfilm, den der SWR gedreht hat. Mit diesem Material können sie nun arbeiten in Stuttgart - ohne dabei den Anspruch zu erheben, Serebrennikows Werk zu vollenden.

Kostüme, Szene oder Bühne, wie sie der Russe erdacht hat, würden nicht verwendet, sagt Jossi Wieler. Serebrennikow sei nicht zu ersetzen. Wieler verbindet, genau wie seinen Chefdramaturgen Sergio Morabito, eine tiefe Freundschaft zu dem Russen, der vor zwei Jahren in Stuttgart mit großem Erfolg "Salome" als Lehrstück über den Terror inszenierte. Wieler bezeichnete den Russen als "Ausnahmekünstler", als "Freigeist" und "ganz besonderen Menschen", auf den der russische Staat stolz sein solle, statt ihn wegzusperren. Um das Werk Serebrennikows zu würdigen, werden in der Stuttgarter Oper im Oktober Aufzeichnungen der Werke des Theater-, Film-, Opern- und Ballettregisseurs gezeigt. Dazu soll es Vorträge und Diskussionen über die Schwierigkeiten von Kulturschaffenden in Russland geben.

Man wolle Serebrennikow ausdrücklich die Möglichkeit offenhalten, an dem Projekt weiterzuarbeiten, sobald er wieder auf freiem Fuß ist, sagt Wieler. Wann immer das sein mag. Der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann hat einen Brief an die Bundeskanzlerin geschrieben mit einer Einladung zur Premiere und der Bitte, sich für den Regisseur zu verwenden. Kretschmann will die Premiere von "Hänsel und Gretel" am 22. Oktober selbst besuchen.

"Ein Fest der Freiheit" verspricht Jossi Wieler für diesen Tag. Auf den Namen Kirill Serebrennikow werde man vorsorglich einen "Ehrenplatz" freihalten. Der Hausarrest ist vorläufig befristet bis zum 19. Oktober. Dass Serebrennikow drei Tage später im Stuttgarter Opernhaus sitzen wird, kann sich aber niemand so recht vorstellen.

© SZ vom 20.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: