Neues Album von Tom Waits:Live aus Frankensteins Folterkeller

Lesezeit: 3 min

Tom Waits kann fast alles, aber am besten kann er immer noch Tom Waits parodieren. Auf seinem neuen Album gibt er mal wieder den Outlaw: Soll er doch, wenn's so toll klingt.

Willi Winkler

In seinen besten Momenten ist Tom Waits ein Mann von gestern, ein Wiedergänger, ein verwischter Gruß aus längst vergangenen Zeiten, als es noch Holzfäller gab und Landstreicher und den krächzenden, seine Zahnlücken bleckenden Sänger an der Ecke, der morgens mit rostigen Sargnägeln gurgelte, aber seit zweieinhalb Jahren kein richtiges Bett mehr gespürt hatte.

Seit mehr als 30 Jahren ein Privatdetektiv der Nacht: Tom Waits (Foto: Foto: Anti Records)

Eine Sagengestalt wie aus einem bösen Märchen, ein Hobo, der ewige Tramp, unstet und gebeutelt vom Leben auf der Landstraße, der Menschheit ganzer Jammer, aber auch voll des Stolzes, das Elend überlebt zu haben. Der namenlose, der unbeschreibliche Horror der Zombie-Filme von Val Lewton umgibt ihn, die Unruhe Jack Kerouacs, die Säufer-Gloriole von Charles Bukowski, die schlaflose Melancholie der "Nighthawks" von Edward Hopper.

Als "Privatdetektiv der Nacht" recherchiert er jetzt seit mehr als dreißig Jahren in Absturzkneipen und unter Brücken, in Saloons und den schmutzigsten Kontakthöfen.

Brummige Lieder vom Elend

Er hat das Elend in jeder Form gesehen, sich mit letzter Kraft wieder rausgezogen und kann ein Lied davon singen, ein brummiges Lied, an der Grenze der Verständlichkeit, und immer vorgetragen mit den letzten Flechsen, die ihm von seinen entzweigerauchten Stimmbändern noch geblieben sind.

Aber wer kauft ihm das eigentlich noch ab? Er ist doch längst ein existenzialistisches Klischee geworden. Bei Judith Hermann in "Sommerhaus, später" genügt die Andeutung "Irgendwo sang Tom Waits" fürs richtige Ambiente aus Einsam- und Männlichkeit.

Ist jemand, der seit vielen Jahren solide verheiratet ist mit einer Frau, die ihm seine Stücke auch noch schreibt, der die vorgeschriebene Anzahl Kinder hat, von denen eins schon eifrig mittrommelt bei diesen Verlierer-Stücken, ist der wirklich der ungewaschene Außenseiter, als der er sich mit knapp 57 immer noch feilbietet?

Jetzt hat sich der große Unerschütterliche, der sich jeder Reklame-Vermarktung verweigert und Firmen schon verklagt, wenn sie einen Stimmenimitator nur tomwaitsisch singen lassen, selber als Praliné auf den Gabentisch gelegt.

Schlechter Geschmack ist teuer

Der Weihnachtslaufkundschaft bietet er ein knapp hundertseitiges Booklet mit unveröffentlichten Fotos, so edel, so kostbar, dass es dem Rezensenten lieber gar nicht erst ausgehändigt wurde.

Es war schon immer etwas teurer, einen schlechten Geschmack zu haben. Dabei wiegt die Sammlung leicht einen durchschnittlichen Pop-Jahrgang auf. Die 54 Stücke auf den drei CDs (insgesamt mehr als drei Stunden Spieldauer) sind zum großen Teil unbekannt und bisher nur auf Sonderveröffentlichungen erhältlich, viele sind ganz neu oder wenigstens neu aufgenommen. Im Internet existieren weitere Alternativversionen.

Es sind Beiträge zu verschiedenen Soundtracks dabei, aber auch eigene Fassungen von Liedern der Ramones, von Daniel Johnston und Leadbelly. Die "Bastards" bringen ein schönes Durcheinander aus Lesestücken, Halbgedichten, bösen Einschlafgeschichten und eine Version des Brecht/Weill-Schlagers von "What Keeps Mankind Alive", bei der selbst Jim Morrison in seinem Grab grün vor Neid werden dürfte.

Die "Bawlers", eigentlich Gröler, sind überwiegend nette, bittersüßlich instrumentierte Nachtclubstücke, unter denen "Little Drop of Poison" herausragt, das der Aficionado aus dem Film "Shrek 2" kennen sollte. Die ganze weggesoffene, kaputtgelebte Wucht seiner Stimme kann Waits auf den "Brawlers" entfalten. Da schont er sich so wenig wie eh und je und geht doch weiter.

"Road to Peace" wäre das derzeit bei Unterhaltungskünstlern übliche GeorgeW.-Bush-Hasslied (wer mag den eigentlich noch außer der sonderdummen Britney Spears?), würde Waits nicht eine große Klage anstimmen, die beim Selbstmordattentat eines Palästinensers in einem israelischen Bus und mit "God is great" beginnt, bei den israelischen Vergeltungsschlägen nicht aufhört und den furchtbaren Realpolitiker Henry Kissinger mitsamt dem überforderten Gernegroß im Weißen Haus einschließt.

Kann alles: Tom Waits

Tom Waits, das ist das Schöne wie das Schreckliche, kann bald alles: irische Balladen, Film-Schnulzen, aber am besten kann er immer noch Tom Waits parodieren. "Bottom of the Earth", im besten Louis-Armstrong-Brüllton vorgetragen, zeigt den Meister in ganzer Größe.

Wenn man dann nach mehrfachem Abspielen auch noch versteht, was er singt bei dieser Live-Übertragung aus Frankensteins Folterkeller, sinkt man doch wieder in die Knie vor Bewunderung. "Gottes grünes Haar liegt da, wo ich in der letzten Nacht schlief, balancierte auf einem Grashalm einen Diamanten." So spinozistisch war selbst Walt Whitman nur in seinen besten Versen.

Aber wie oder was denn nun, fragt die Leserin: Soll ich den Waits kaufen? Sollen Sie, geschätzte Leserin, sollen Sie unbedingt, und zwar für Ihren Mann, denn die nächste Weihnachtsdepression kommt ganz bestimmt. Wenn dann Ihr Mann, der sich gerade überlegt, ob er wieder mit dem Rauchen anfangen soll, damit er mal schnell Zigaretten holen gehen kann, wenn dann Ihr Mann unterm Tannenbaum die "Orphans" findet, wird er in den schlimmsten Tagen des Jahres damit beschäftigt sein, dem unvergleichlichen Weltschmerz von Tom Waits nachzulauschen, und Weihnachten wird doch noch ein Fest der Liebe.

Tom Waits: Orphans -- Brawlers, Bawlers & Bastards. Anti Records.

© SZ vom 20.11.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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