Neu im Kino: "Wilde Unschuld":Liebe deine Krankheit wie dich selbst

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Eine skandalöse Familiengeschichte mit Julianne Moore stellt die selbstzerstörerischen Tendenzen der High Society bloß.

Fritz Göttler

Ich war der Dampf, sagt Tony, der jugendliche Held dieses Films, als Heiß und Kalt zusammentrafen. Ein genealogischer Gag, der elementares Kino, filmische Chemie in Reinkultur verspricht.

Es geht um das Schicksal der Familie der Baekelands, das hier vorgeführt wird, als wäre es eine antike Tragödie - die Nachkommen des Erfinders des Bakelits, jenes dunklen unverwüstlichen Plastikstoffs, den wir von Telefonen kennen oder von Pistolen.

Kalt der Vater, heiß die Mutter

Kalt war in Tonys Fall der Vater, heiß war die Mutter. Die mondäne Barbara Daly heiratet Brooks Baekeland, den Enkel des Erfinders und Begründers des Firmen- und Familienvermögens.

Sie will den sozialen Aufstieg, zu den Stationen gehören New York, Paris, Cadaques, London. Brooks träumt, wie viele vom Erfolg der Vorfahren verfolgte Erben, vom literarischen Erfolg und verlässt Barbara bald. Deren Leben endet am 11. November 1972, gewaltsam.

Natalie Robins und Steven M. L. Aronson haben ein Buch über dieses Leben und seine Ambition geschrieben, über die Skandale und das moralische Unbehagen, das dabei entstehen mag.

Der Film, den Tom Kalin daraus gemacht hat, folgt einer anderen Bewegung. Er legt das Zerstörerische, das Selbstzerstörerische bloß in den Lebensformen der hohen Society.

Er versucht den Punkt zu markieren, an dem die kühle Kalkulation des Aufstiegs von der Lust auf Lächerlichkeit überlagert wird und von der Tautologie: Männer tun, was Männer tun . . . Wenn Posen und Provokation Selbstzweck werden.

Auf einem Abstecher nach Hollywood soll Barbara Probeaufnahmen mit Dana Andrews gemacht haben - man muss an "Laura" denken, den klassischen "film noir", der eine mysteriöse fiktive Parallelgeschichte dazu sein könnte.

Barbara, das ist Ridicule Chic, amerikanischer Narzissmus und Exhibitionismus. Ihre Krankheit lieben die Psychotiker wie sich selbst, hat Lacan geschrieben.

Position eines Voyeurs

Sehr früh ist der kleine Tony von der Mutter verdonnert worden, bei kleinen Abendessen de Sade vorzulesen. Später versucht sie sich mit seinen schwulen Affinitäten zu arrangieren, und sei's auch nur in der Position eines Voyeurs. Als Brooks sie verlässt mit einer anderen, auf Mallorca, läuft sie ihm auf den Flugplatz nach, stellt ihn zur Rede: "Kaum bin ich mal eine Woche weg, machst du etwas . . . sehr Intellektuelles."

Tom Kalin ist ein Vertreter des New Queer Cinema der Neunziger, in seinem ersten Film "Swoon", 1992, hat er den berühmten Mordfall Leopold-Loeb erzählt - zwei Jungen, die aus Neugier einen Mord begehen.

Genauso kühl geht er das Familiendrama an, untersucht, wer nun eigentlich einen Mann macht aus einem Jungen. Julianne Moore, die auch bei Kalins Freund und Kollegen Todd Haynes prominent figurierte, in "Safe" und "Far from Heaven", schreckt vor nichts zurück - die Mutter und Hure, in einer manieristischen Endlosschleife von Imitation of life.

SAVAGE GRACE, USA/Spanien 2007 - Regie: Tom Kalin. Buch: Howard A. Rodman. Nach dem Buch von Natalie Robins, Steven M. L. Aronson. Kamera: Juan Miguel Azpiroz. Musik: Fernando Velázquez. Schnitt: John F. Lyons. Mit: Julianne Moore, Stephen Dillane, Eddie Redmayne. Concorde, 96 Minuten.

Außerdem laufen an:

120, von Özhan Eren, Murat Saraçoglu Badland, von Francesco Lucente

Ben X, von Nic Balthazar

Bird's Nest - Herzog & de Meuron in China, v. Christoph Schaub, M. Schindhelm

Freischwimmer, von Andreas Kleinert Love Vegas, von Tom Vaughan

(REC), von Jaume Balaguero, Paco Plaza

Rettet Trigger!, von Gunnar Vikene

Speed Racer, von Andy und Larry Wachowski

© SZ vom 8.5.2008/pak - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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