Netzdepeschen (22):Das Netz als Schrebergarten

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Die Ideologie des GeoWeb wirkt oft erschreckend kleinlich. Beim Kampf gegen Graffiti und bei der Jagd nach Prominenten offenbart das Netz einen erschütternden Kleingeist.

Christian Kortmann

Der Schriftsteller Arno Schmidt war der Ansicht, dass eine Landkarte manchmal mehr sage als noch so viele Worte. Deshalb skizzierte er die Handlungsorte seiner Geschichten gerne mit Bleistift aufs Papier anstatt sie umständlich zu beschreiben. Im Netz verfolgen immer mehr User eine ähnliche Strategie und versehen die etwa von Google Maps bereit gestellten Landkarten mit Anmerkungen, um die Welt in ihrem Sinn zu interpretieren.

Glück im Kleinen: Schrebergarten in Hannover (Foto: Foto: ddp)

Man sieht dann nicht mehr nur Straßennetze und Ortsnamen, sondern, wie zum Beispiel auf der Karte von James Lamb aus Federal Way bei Seattle, alle Stellen, an denen Graffitis zu finden sind. Klickt man eines der Graffiti-Fähnchen an, sieht man ein Foto des Straßenkunstwerks. Und wechselt man zur maximalen Vergrößerung des Satellitenbildes, fügen sich die Fakten zu einem realistischen Gesamteindruck.

Unter dem Motto "Everything is Connected" widmete sich kürzlich eine interdisziplinäre Konferenz in Vancouver dem so genannten GeoWeb. Von der allmählich Gestalt annehmenden Fusion von Live-Bildern, GPS und modernsten Kartierungstechniken erhofft man sich Großes: Die Welt könnte noch näher zusammen rücken, wenn sie sich ein kongruentes digitales Abbild erschafft, das anders als eine auf Pixelpuppen-Ästhetik herunter gebrochene Simulation à la Second Life tatsächlichen Bezug zur Realität hat. Als praktische GeoWeb-Anwendungen standen in Vancouver Katastrophenmangement oder die gezielte Steuerung von Kunden an Orte des Konsums auf dem Programm.

Ob und wie uns das voran bringt, ist noch nicht absehbar. Denn bislang fehlt im Netz eine Suchmaschine, die die Soziokarten der User nach Areal und Thema sortiert. Und die Ideologie des GeoWeb wirkt oft erschreckend kleinlich. Denn Lambs Graffiti-Karte ist nicht etwa eine subversive Eroberungsstrategie für den öffentlichen Raum: Der 33-Jährige führt vielmehr einen Krieg gegen Graffitis und registriert manisch kleinste Tags auf Stromkästen oder Privateigentum. Hier wird das Netz zum Schrebergarten, den der Online-Spießer nicht mit Unkrautvernichtungsmitteln, sondern mit seiner GeoWeb-Software bestellt.

Gleichfalls abschreckend wirkt die "Stalker"-Karte, die Prominentensichtungen im Stadtplan von New York verankert. Denn verbände man dies mit Bewegtbildern wie bei YouTube, würden die Aufnahmen exakt zuordenbar und man schüfe einen Überwachungsstaat von unten: Auch "Little Brother Is Watching You" ist eine verdammt unangenehme Vorstellung.

Als Mahnung ist deshalb Tim Hibbards Projekt zu verstehen, der einen GPS-Sender mit sich führt und seine aktuelle Position im Netz für jedermann sichtbar macht. Dabei schafft das GeoWeb eigentlich eine neue Freiheit. Denn durch die vielfältigen kartologischen Zuschreibungen entsteht ein bunteres Bild der Welt, wie auf jener Website, die die abenteuerliche Reise zweier Wale den Sacramento River hinauf nachzeichnet. Die abstrakte Reduktion gewöhnlicher Karten wird überschrieben, und eigenwillige Fantasie kehrt in die Geographie zurück wie auf historischen Globen, wo Seeschlangen in den Meeren und Drachen auf fernen Kontinenten hausen.

Um die Möglichkeiten des GeoWeb deutlich zu machen, sind also Spieltrieb und kreative Experimente gefragt: Arno Schmidt würde heute vielleicht mit selbst gemachten Landkarten versehene Online-Romane schreiben.

© SZ vom 13.8.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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