Netz-Depeschen (85):Schlau wie Capote

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Das Internet ist voller Trash und sinnlosem Gebrabbel - Dieser Gedanke muss revidiert werden. Denn im Netz tummeln sich die Intellektuellen.

Jens Christian Rabe

Jeder Narr kann einen Blog ins Netz stellen. So stand es zum Beispiel am vergangenen Wochenende in dieser Zeitung. Und ganz falsch ist das ja nicht. Ganz falsch ist jedoch der bei dieser und vielen anderen Gelegenheiten kaum verhohlen insinuierte Umkehrschluss: Dass nämlich jeder ein Trottel ist, der etwas im Netz veröffentlicht. Im Gegenteil. Das Internet ist - man darf das schon hin und wieder noch einmal sagen - voller intellektueller Inseln. Die Netzseiten des gemeinnützigen und für seine aufwendigen investigativen Reportagen schon mehrfach ausgezeichneten liberalen amerikanischen Magazins Mother Jones (www.motherjones.com) zum Beispiel. Der amerikanische Schriftsteller Dave Eggers besteht derzeit im Interview auf die Unsterblichkeit der Ironie: "Obama hat einen sehr trockenen und feinen Sinn für Humor. Wenn seine Wahl eines gezeigt hat, dann, dass wir keine Angst mehr haben vor dem Subtilen und Unkonventionellen."

Unbedingt einen Besuch wert sind immer wieder auch die Seiten des von einer Reihe von jüngeren New Yorker Autoren um den Schriftsteller Benjamin Kunkel herausgegebenen Magazins n+1 (www.nplusonemag.com). Ein großes Interview mit der Dokumentarfilmerin Astra Taylor ist dort zur Zeit zu finden. Für ihren Film "Examined Life" hat sie acht weltberühmte Intellektuelle der Gegenwart (u.a. Cornel West, Peter Singer, Judith Butler und Slavoj Zizek) an öffentliche Orte wie Flughäfen oder Müllhalden begleitet, um mit ihnen über ihr Denken zu sprechen. "Das Charisma", sagt Astra Taylor, "das wir in den Medien üblicherweise erleben ist sehr oberflächlich. Es basiert in der Regel auf konventionellen Schönheitsidealen. Die Protagonisten meines Films strahlen ein Charisma aus, dass aus ihrer Hingabe und geistigen Beweglichkeit erwächst."

Auch die Netz-Abteilung der unbedingt bemerkenswerten amerikanischen Zeitschrift The Believer aus Dave Eggers McSweeney's-Verlag ist längst mehr als der Wurmfortsatz der gedruckten Ausgabe. Im Moment widmet sich unter www.believermag.com C.S. Leigh der Frage, ob wir gerade Zeugen eines - nicht des - Todes des Kinos werden. Außerdem ist ein großes Interview des Magazins mit der am 16. März im Alter von 99 Jahren verstorbenen Marjorie Glicksman Grene wieder zu finden. Die deutsch-amerikanische Philosophin ist am 16. März im biblischen Alter von 99 Jahren verstorben. Der schönste Dialog des Gesprächs darf hier natürlich nicht verschwiegen werden: The Believer: "Wir müssen noch über den Wissenschaftstheoretiker Imre Lakatos reden . . ." Grene: "Ich habe ihn nicht getötet!" The Believer: "Aber warum hört man dann ständig davon?" Grene: "Weil ich ihm einmal in London aus dem Taxi geholfen habe, wobei er sich den Kopf stieß. Bald darauf starb er. Aber nicht wegen mir!"

Noch bessere Interviews findet man nur noch auf der Homepage der Paris Review (www.parisreview.com), der berühmten Literaturzeitschrift des noch berühmteren, verstorbenen George Plimpton. In voller Länge dokumentiert ist derzeit ein Gespräch mit der neuen amerikanischen Poet Laureate Kay Ryan. Im Archiv stehen seit einigen Jahren die großen Interviews der Zeitschrift mit allen bedeutenden amerikanischen Autoren seit den fünfziger Jahren. Truman Capote sagt dort: "Ein falsch rhythmisierter Satz kann eine ganze Geschichte vernichten."

© SZ vom 30.3.2009/irup - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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