Netz-Depeschen:Alle mal raus hier

Lesezeit: 2 min

An jeder Utopie, die das Netz in letzten 20 Jahren geboren hat, klebt personalisierte Werbung: Das Jahr 2010 könnte als das Jahr in die Geschichte eingehen, in dem die ersten Menschen das Internet wieder verlassen.

M. Moorstedt

Das Jahr 2010 könnte als das Jahr in die Geschichte eingehen, in dem die ersten Menschen das Internet, das wir inzwischen kennen, wieder verlassen. Abwanderungstendenzen und Alternativvorschläge gibt es jedenfalls längst genug. Da sind einige, die an einer dezentralen DNS-Infrastruktur arbeiten, weil sie den offiziellen Kontrollgremien misstrauen.

Sind wir längst Leibeigene des Internets? Wäre es dann nicht an der Zeit, sich einen besseren Ort zu suchen? Die Emigration scheint derzeit vielen die einzige Lösung. (Foto: AP)

Derweil gründen vier Informatikstudenten das soziale Netzwerk Diaspora, das auf die Emigration schon im Namen anspielt, und in dem jeder sein eigener Herr über seine Daten und Status-Updates ist, weil sie auf tausenden, privaten Servern gespeichert sind. Selbst für die Google-Suche gibt es eine Alternative: Die Betreiber der Suchmaschine Ixquick verpflichten sich, private Daten von Nutzern weder zu erfassen, noch zu speichern.

Niemand aber war in den vergangenen Monaten in seinen Forderungen und Ideen radikaler als Douglas Rushkoff. Rushkoff ist Autor zahlreicher Bücher über die Digitalkultur und Professor an der New York University. In einem, in der vergangenen Woche auf Shareable veröffentlichten Artikel rief er dazu auf, das Internet zu verlassen: "Das Internet war niemals wirklich frei, dezentral oder chaotisch", schrieb er in seinem Brandbrief. Sämtliche, noch existierende Definitionen, die vom Netz als herrschaftsfreiem Raum sprechen, sollten endlich als das entlarvt werden, was sie sind: Utopien. "Ich möchte wirklich kein Miesmacher sein, ich möchte nur die Vorstellung zerstören, dass das Internet unkontrollierbar ist. Damit wir endlich damit anfangen können, etwas zu erschaffen, was es tatsächlich ist."

Rushkoff vergleicht die derzeitige Situation mit dem Spätmittelalter. Einer Zeit, in der seiner Ansicht nach eine vitale und dezentrale, weil dörfische, "Peer-to-Peer-Wirtschaft" von den aufkommenden Monarchien zerstört worden sei. Durch ein vereinheitlichtes Währungssystem, zentrale Gesetzgebung und Machterhalt durch Erbfolge war den Herrschern eine bis dahin nicht gekannte Kontrolle über ihre Untertanen möglich. Folgt man Rushkoffs Analogie, läuft der Netizen Gefahr, zum Leibeigenen zu werden. Die Digital-Dynastien des frühen 21. Jahrhunderts, egal ob Content-Provider oder Netzbetreiber, hätten ihre Hände auf den Schaltern, die die Kommunikation und Transaktionen der Massen erst ermöglichen. Und überhaupt klebe auf jeder Utopie, die das Internet in letzten 20 Jahren geboren hat, personalisierte Werbung.

Für Rushkoff ist die Sache klar: Emigration. Statt einen Krieg gegen die modernen Monarchen zu führen, der uns nur schmerzhaft die eigene Machtlosigkeit bewusst machen würde, schlägt er vor, im Exil einen Neuanfang zu wagen. Wie der genau aussehen soll, ist allerdings noch nicht ganz klar. Prinzipiell möchte Rushkoff, dass man sich in der Zukunft ein Beispiel an der Vergangenheit nimmt. Schließlich kommunizierten bereits in den achtziger Jahren zehntausende User über dezentrale Mailboxsysteme wie FidoNet , in denen jeder Einzelne seinen Rechner als Server freigeben konnte, um so den Datenaustausch zu gewährleisten. Bis auf die Telefonleitungen gab es keine zentral geregelte Infrastruktur. Und obwohl die Daten nur tröpfchenweise am Ziel ankamen, träumt Douglas Rushkoff 30 Jahre später von einem ähnlichen System. Es müsse wieder Utopien jenseits des Mainstreams geben.

© SZ vom 10.01.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: