Naomi Kleins Strategie:Erst der Schock und dann das Heil

Lesezeit: 5 min

Heute erscheint Naomi Kleins jüngste Attacke wider den globalen Kapitalismus: "Die Schock-Strategie - der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus". Noch eine Verschwörungstheorie?

Robert Jacobi

Was haben Terroranschläge, Militärputsche und Tsunamis gemeinsam? Richtig. Es sterben meistens Menschen dabei. Doch soll es noch eine Gemeinsamkeit geben, die für die Überlebenden angeblich dramatischere Folgen habe als die Ereignisse selbst: Eine Gruppe marktliberaler Ökonomen nutze den kollektiven Schock, um das kapitalistische Wirtschaftssystem in seiner reinsten Form zu verwirklichen - so geschehen im Lateinamerika der siebziger Jahre, in Südostasien und zuletzt im Irak.

In ihrem neuesten Werk nährt Naomi Klein das Gefühl der Hilflosigkeit ob der Übermacht des Kapitals. (Foto: Foto: Reuters)

Das zumindest behauptet Naomi Klein, die Lara Croft der Antiglobalisierungsbewegung. An diesem Montag überschwemmt sie die Buchläden mit ihrem jüngsten Werk "Die Schock-Strategie - Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus" (S. Fischer Verlag), das in sieben Ländern und acht Sprachen gleichzeitig erscheint. Dick und schwer, stützt es sich auf eine Verschwörungstheorie - sonst nichts.

Es ist acht Jahre her, dass Naomi Klein mit ihrer wütenden Kritik an der globalisierten Markenwelt in "No Logo!" eine Million Bücher verkaufte. Die Welthandelsrunde in Seattle war gescheitert, Studenten hatten beim Jahrestreffen von Weltbank und Währungsfonds die Innenstadt von Washington lahmgelegt, und ein französischer Bauer hatte ein Schnellrestaurant in Millau zertrümmert.

Das Restaurant ist wieder aufgebaut, die Studenten haben ordentliche Arbeit gefunden, und über den Welthandel wird auf der Ebene der technischen Details gefeilscht. Es war mal wieder an der Zeit für einen Schock, für einen Affront gegen das globalisierte Establishment, und der ist Naomi Klein gelungen.

In einer bizarren Fügung des Zufalls erscheint dieses Buch zwei Tage, nachdem Osama Bin Laden an die Menschen auf dieser Erde appellierte, sich des "kapitalistischen Systems" zu entledigen, "so wie ihr euch zuvor aus der Sklaverei der Mönche, Könige und Feudalherren befreit habt".

Nun wäre es absurd, einen Zusammenhang zwischen der kindlichen Trotzigkeit der Naomi Klein und dem tödlichen Zynismus des Osama bin Laden herzustellen. Dennoch - der Duktus ähnelt sich, wenn Klein vom "Kreuzzug zur weltweiten Befreiung der Märkte" und von einem brutalen "Kampf für die Verbreitung eines puristischen Kapitalismus" schreibt, den "prokorporatistische Regime" führten.

Nur für Bekehrte

Was die Kanadierin dabei über den Kapitalismus schreibt, ist weder richtig noch falsch. Kapitalismus bedeutet nicht notwendigerweise Freiheit, aber Freiheit ohne Kapitalismus ist schwer vorstellbar. Unter Marxisten gilt John Locke als einer der ersten wirtschaftsradikalen Sünder der Geistesgeschichte - und doch war er einer der intellektuellen Väter der Französischen Revolution und der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung.

Der Dreiklang der Naturrechte Freiheit, Gleichheit und Eigentum geht bei Naomi Klein verloren, wenn sie mit staatlicher Enteignung und Wirtschaftskontrollen sympathisiert. Wie sollte es auch anders sein - beginnt die westliche Ideengeschichte bei ihr doch erst mit Milton Friedman und den "Chicago Boys", ganz so, als hätte es den jahrhundertelangen Kampf um individuelle und damit auch wirtschaftliche Freiheit nie gegeben.

Das Buch erfüllt alle Kriterien des "doppelt verschanzten Dogmatismus", dessen Regeln Karl Popper einst so formulierte: Vertreter pseudowissenschaftlicher Theorien, schrieb Popper, seien unzugänglich, wenn man ihnen Inkonsistenzen und Widersprüche nachweise.

Ihre Theorien erklärten vorgeblich alles, was in ihrem Betrachtungsraum liege; ihre Vertreter interpretierten jedes neue Ereignis als Beleg für ihre Thesen, und bei den Anhängern entstehe das Gefühl, einer Gruppe von intellektuell Bekehrten anzugehören, die als einzige die Verhältnisse allumfassend erklären könne. Nichtwissende würden mit möglichst emotionalen Appellen bekehrt.

Naomi Klein folgt dieser Strategie, indem sie ihre Leser in den ersten Kapiteln einer geistigen Folter unterzieht. In schrecklichen Details beschreibt sie, wie die CIA in den fünfziger Jahren mit Psychiatern zusammenarbeitete, die Patienten mit Elektroschocks und Isolationshaft mental zu vernichten versuchten, um sie danach neu zusammensetzen und von ihren Wahnideen zu heilen.

Sie versucht, eine Verbindung zwischen diesen medizinischen Exzessen und jener Therapie herzustellen, die Milton Friedman und seine Schüler in ihrem Reformwahn in Chile, Argentinien, Russland, Polen und zuletzt in den Vereinigten Staaten und im Irak angewandt hätten - nämlich den Schockzustand der Menschen nach traumatisierenden Ereignissen zu nutzen, um ihr Programm von Privatisierung, Deregulierung, Liberalisierung und Kürzung sozialer Leistungen widerspruchslos durchsetzen zu können.

Milton Friedman, der starb, kurz nachdem die Republikaner im vergangenen Herbst ihre Mehrheit im US-Kongress verloren hatten, ist für Naomi Klein ein Monster. Generationen von Wirtschaftswissenschaftlern seien seiner marktradikalen Heilsbotschaft gefolgt, die sie immer dann umsetzten, wenn irgendwo auf der Welt ein solches Chaos herrschte, dass die Menschen erst, wenn es zu spät war, bemerken konnten, was ihnen zugemutet wurde.

Wenige Wochen nach Milton Friedman starb übrigens der frühere chilenische Diktator Augusto Pinochet, der die Wirtschaft seines Landes unter der Anleitung Friedmans und dessen Schülern nach kapitalistischen Prinzipien umgebaut hatte, während er Oppositionspolitiker erschießen und zehntausende Menschen verschwinden ließ.

Chile ist heute bei weitem das höchstentwickelte Land Lateinamerikas. Wer hoch in den Anden von Bolivien aus die Grenze überquert, landet in einer anderen Welt: Geteerte Straßen mit weiß glänzenden Mittelstreifen, moderne Langstreckenbusse, saubere und geruchsfreie Straßen. Das alles verursacht ein mulmiges Gefühl. Denn, so schildert Naomi Klein in beeindruckender Detailtiefe: Nur das autoritäre Regime hatte es Pinochet ermöglicht, die kollektivistische Tradition des Landes zu brechen.

Was werden soll

Als Pinochet starb, hatte das chilenische Volk noch keine Antwort auf seine drängendste Frage gefunden: War die Genugtuung, eine funktionierende Infrastruktur zu besitzen und der Liebling der Finanzmärkte zu sein, die vorausgegangenen Leiden wert? Ja, antwortet die immer größer werdende Oberschicht. Nein, antwortet jenes Fünftel der Bevölkerung (vor zwanzig Jahren war es noch doppelt so viel), das in bitterer Armut lebt und vom wirtschaftlichen Erfolg ausgeschlossen ist.

Die wachsende Kluft zwischen Armen und Reichen, die Naomi Klein immer wieder beschwört, ist eine Tatsache. Eine andere Tatsache aber ist, dass in Ländern wie Indien oder China noch nie so viele Menschen Zugang zu sauberem Trinkwasser und medizinischer Versorgung hatten wie heute.

Naomi Kleins Buch ist jetzt schon Geschichte, ein Wiedergänger des Denkens, das die marktwirtschaftliche Lehre in ihrer übersteigerten Form als Pseudowissenschaft zu entlarven half, es aber selbst nicht über die Pseudowissenschaft hinausschaffte. In den Industrieländern breitet sich hingegen die Erkenntnis aus, dass nicht jede Privatisierung einen Fortschritt bedeutet und ein Sozialstaat zwar teuer ist, aber ganz andere, viel dramatischere Kosten verhindern kann.

Naomi Klein führt uns dagegen in die Vergangenheit, unterstützt durch die von ihrem Rechercheteam über Jahre hinweg zusammengetragenen Fakten, und widmet der Gegenwart nur ein kurzes Nachwort. Was in der Zukunft kommen soll: Darüber nachzudenken, hat sie vergessen oder bewusst ausgelassen. Das Problem dabei ist, dass vor allem solche Menschen das Buch lesen werden, die schon jetzt in den Verschwörungstheorien der Globalisierungskritiker gefangen sind. Naomi Klein verschont sie von Gegenargumenten und verschweigt, wie nahe Antikapitalismus, Staatsprotektionismus und rückwärtsgewandter Nationalismus beieinander stehen.

Indem Naomi Klein die neuen linken Führer in Lateinamerika aus ihrem regionalen Zusammenhang reißt und ihre Parolen nicht hinterfragt, fällt sie zurück in die Zeit der ideologischen Kämpfe des vergangenen Jahrhunderts, die weitaus mehr Opfer forderten als jeder wirtschaftswissenschaftliche Diskurs.

Sie nutzt die angebliche Schockstrategie ihrer Gegner, um ihre Anhängerschaft für eine Auseinandersetzung zu mobilisieren, deren Ziel völlig unklar bleibt. Dieses Buch macht die Welt nicht besser, sondern zementiert die Vorstellung sie sei grundsätzlichen verderbt. Naomi Klein füttert das angesichts der Übermacht von Geld und Kommerz empfundene Gefühl der Hilflosigkeit, das Populisten und Nationalisten so wunderbar auszunutzen verstehen, ohne einen Ausweg zu zeigen - und hilft damit, wenn überhaupt, nur sich selbst.

© SZ vom 10.9.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: