Nachrichten aus dem Netz:Youtube für Ästheten

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Minimalistisches Design, kreative Clips: Der Videodienst Vimeo gilt als Yotube für Menschen mit künstlerischem Anspruch. Kommerzielles ist verpönt.

Niklas Hofmann

Der Inhaltsangabe des jüngsten Hits unter den Internet-Videos klingt eher abschreckend. Ein übergewichtiger junger Mann mit einer zweifelhaften Neigung zu grellen T-Shirts tanzt sich in beinahe zehn Minuten mit mehr Leidenschaft als Rhythmusgefühl durch 100 Popsongs, an 100 verschiedenen Orten, gedreht an 100 Tagen.

Für Menschen mit ästhetischem Empfinden: die Video-Plattform Vimeo. (Foto: Foto: Screenshot)

Doch der Film mit dem Titel "Boombox" übt auf inzwischen Hunderttausende Internetnutzer einen ganz eigenen, beglückenden Sog aus, der nicht nur zehn Minuten, sondern weit darüber hinaus anhält. Der sonst übliche gehässige Spott bleibt aus. Den amerikanischen Journalisten und Blogger Reihan Salam verzauberte der Clip so sehr, dass er den jungen Tänzer Ely Kim schon zum "vielleicht großartigsten menschlichen Wesen, das je gelebt hat" erklären wollte.

Kim ist Student an der Kunsthochschule der Universität Yale. Das Video hat er als Teil eines Workshops gedreht, den der Grafikdesigner Michael Bierut dort veranstaltet. Dieser Hintergrund erklärt Kims präzisen Sinn für Optik, den die sorgfältig ausgewählten Bildausschnitte bezeugen. Es passt aber auch dazu, dass Kim seinen Clip vor zwei Wochen eben nicht auf der namhaftesten Massenabspielstation, sondern beim kleineren Videodienst Vimeo.com online gestellt hat.

Bessere Bildqualität

Vimeo hat sich inzwischen eine komfortable Nische als eine Art Youtube für Menschen mit ästhetischem Empfinden eingerichtet. Das fängt schon beim minmalistischen Webdesign an, geht aber bei den Videos weiter, die in ihrer Bildqualität dem Angebot des Platzhirschen meist weit überlegen sind. Die höhere Bitrate und Auflösung der Clips überzeugen angehende Animationskünstler oder Kurzfilmer. Im hochauflösenden HD-Bereich hat Vimeo längst das umfangreichste Angebot.

Aber auch inhaltlich hebt sich Vimeo deutlich von der Konkurrenz ab. Die Benutzerregeln schreiben vor, dass nur selbst kreierte Videos auf die Seite gestellt werden dürfen, Ausschnitte aus Filmen, Fernsehsendungen oder Musikvideos sind grundsätzlich tabu, es sei denn der Regisseur selbst lüde sie hoch.

Der Anteil echter kreativer Leistung ist hier denn auch wesentlich höher als bei Youtube. Zwar finden sich auch bei Vimeo prügelnde Schulmädchen und tapsige Kätzchen, aber prozentual doch ungleich mehr Werke, die künstlerische Ambition und Können verraten. Und die gehen meist auf das Konto von Nachwuchsfilmemachern und -grafikdesignern. Denn auf Vimeo sind auch kommerzielle Zwecke verpönt, weswegen etwa die Filmstudios mit ihren Trailern weitgehend außen vor bleiben.

Kontrovers diskutiert wird denn auch im Forum der Seite diskutiert, ob der Actionfilmregisseur Michael Bay, der hier seit neuestem "als Künstler" Ausschnitte seiner Arbeit präsentiert, von dem millionenschweren Blockbuster-Produzenten Bay zu trennen ist, für den diese Clips nichts anderes als Werbung sind.

Nachhilfelektion zur Krise

Typischer als die Bay-Produkte ist für Vimeo aber etwa ein Stück wie "The Crisis of Credit Visualized", eine elfminütige, wunderschön animierte Nachhilfelektion zur Entstehung der Finanzkrise. Sie ist die Abschlussarbeit von Jonathan Jarvis, einem weiteren Grafikdesigner, am Art Center College of Design im kalifornischen Pasadena.

Und wer danach in latente Weltuntergangsstimmung versetzt, weiterklickt, kann eine weitere Vimeo-Perle entdecken, nämlich das wunderschöne Musikvideo, das der Regisseur Erik West für die Independent-Band Codebreaker gefertigt hat.

In so genannter "Tilt-und-Shift-Technik" wurde es mit einer handlichen Kompaktkamera im winterlichen Milwaukee gedreht. Man hat den Eindruck der Großstadt, die durch die eigenartig verlagerte Bildschärfe wie eine fragile Märklin-Modellwelt wirkt, dabei zuzusehen, wie sie unter unendlichen Schneemassen für immer verschwindet. Ein Video, das frösteln lässt. Und durch seine Schönheit wärmt.

© SZ vom 02. März 2009/dmo - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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