Musikwissenschaft:Die Vier-Töne-Revolution

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F-H-Dis-A: Im gelb schraffierten Taktteil steht der Gis-Vorhalt vor dem A. Mit diesem Akkord hat Wagner mit der reinen Lehre gebrochen. Repro: SZ (Foto: N/A)

Der Tristan-Akkord ist bis heute ein Rätsel

Von Rita Argauer

Die Welt verschwindet. Völlig. Die Erde kracht in diesen riesigen anderen Planeten, den Lars von Trier sinniger Weise "Melancholia" nannte. Der Größenunterschied der beiden Himmelskörper ist so eklatant, dass vermutlich nicht einmal ein Krater von der Erde übrig bleiben wird. Die Bilder, die der Regisseur dafür findet, sind gemein. Denn: Sie sind schön, faszinierend und hochgradig stilisiert. Und irgendwo auch völlig unangemessen angesichts der Katastrophe, von der da erzählt wird. Richard Wagners "Tristan"-Vorspiel als Soundtrack darüber zu gießen, ist indes nur konsequent. Auch die Geschichte um Tristan und Isolde bewegt sich auf ähnlich schmalem Grat zwischen Erfüllung und absolutem Nichts, auf dem die Selbstauflösung, der "Liebestod", als letzte Konsequenz begriffen wird.

Doch das eigentlich Faszinierende an diesem Vorspiel ist, dass es Wagner hier gelang, all diesen schwindsüchtigen, spätromantischen Impetus in einen Akkord, der zum Leitmotiv wird, zu schreiben. Ein harmonischer Kniff, mit dem "Tristan und Isolde" von Beginn an in ein harmonisches Zwielicht getaucht wird. Und eine kompositorische Revolution.

Im zweiten Takt des Vorspiels taucht dieser sogenannte Tristan-Akkord das erste Mal auf. F-H-Dis-A - vier Töne, die einen musikgeschichtlichen Wendepunkt markieren (wobei, um genau zu sein, das A noch ein Gis als Vorhalt hat). Denn Wagner hatte damit mit dem Regelwerk der bis dahin gültigen Kompositionslehre gebrochen: Er löst die harmonische Spannung, die in diesem Akkord liegt, nicht im darauffolgenden Takt auf. Die leichte Disharmonie bleibt irrlichternd bestehen, während sich die damals gültige Vorstellung von Harmonie und Tonsatzlehre dafür umso gewaltiger auflöste - und letztlich über den Impressionismus zu der Atonalität der aufkeimenden Moderne führte.

Atonal ist der Tristan-Akkord längst nicht, er bleibt schlicht und - das erste Mal in der westlichen Musikgeschichte - harmonisch uneindeutig. Es gibt eine ziemliche Masse an musikwissenschaftlicher Literatur darüber. Kontrovers wird da diskutiert und analysiert, welche Tonart das nun sei, wo der Akkord musikalisch hin wolle, was ihn so besonders mache. So richtig einig ist man sich bis heute nicht. Doch eines ist klar: Wagner lässt den harmonischen Boden seines Werkes durch diese Tonfolge immer wieder schwanken.

Und das verleiht dem Akkord noch eine weitere Aufgabe: Er übernimmt eine erzählerische Funktion. Die Musik in Opern tut das für gewöhnlich auch. Doch bei diesem Akkord geht die musikalische Illustration der Geschichte noch einen Schritt weiter. Nicht das Tempo, nicht der Charakter der Komposition erzählt mit - wie etwa beim Trinklied in der "Traviata", das auch von einer Taverne erzählt, weil es den Stil, die Rhythmik und den Impetus der Musik in Tavernen des 19. Jahrhunderts aufgreift. Der Tristan-Akkord hingegen erzählt auf der Mikroebene der Musik und gerade nicht durch die Referenz an Bekanntes.

Er bringt die Hörgewohnheiten durcheinander, durch seine Harmonik vermag er zu verstören und das Innenleben der Protagonisten auf den Zuschauer zu übertragen. Er lässt erschaudern und erzeugt affektiv all den Schauer und den Glanz, der im Verlauf der Oper folgen wird. Die Wirkung zeigt sich auch heutigen Ohren, die die Atonalität bereits kennen. Wenn nicht unbedingt in den vielen "Tristan"-Inszenierungen, dann spätestens in der Unabdingbarkeit, die Lars von Trier durch diese Musik seiner romantischen Weltzerstörungsfantasie verlieh.

© SZ vom 10.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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