Milan Kunderas "Vorhang":Das Zahnweh von Don Quijote

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Ein bisschen Kitsch und auch mal gern vulgär: Milan Kundera bewegt sich in ganz eigenem Genre - irgendwo zwischen Romanseitenzerpflücken, Blütenverlesen, Buchrandvollschreiben und Spazierenführen der Gedanken - quer durch die europäische Literatur.

Joseph Hanimann

Wie soll man beweisen, dass das Bartbecken, das Don Quijote in der Schenke auf dem Kopf trägt und das der Barbier zurückhaben will, kein Ritterhelm ist?

(Foto: N/A)

Die ganze Seinsfrage der Gattung Roman offenbart sich in dieser Verlegenheit des Barbiers, denn die Kumpanen Don Quijotes haben in geheimer Abstimmung beschlossen: Das Becken ist ein Helm.

Seit zwanzig Jahren erforscht Milan Kundera diese Frage. Er selbst schreibt keine Romane mehr. Mit "Die Kunst des Romans" (1986), "Verratene Vermächtnisse" (1993) und ganz besonders nun mit diesem neuen Buch, "Der Vorhang", schuf er aber ein eigenes Genre, irgendwo zwischen Romanseitenzerpflücken, Blütenverlesen, Buchrändervollschreiben und unterhaltsamem Spazierenführen der Gedanken quer durch die europäische Literatur.

Der Weg endet diesmal an einem Vorhang: jenem aus Legenden gewebten Vorhang, der mit steifem Faltenwurf Jahrhunderte lang nicht nur im Theater die heroischen, tragischen Menschengeschichten rahmte und der zur Zeit der Renaissance ganz undramatisch plötzlich riss.

Dass Distanzierung, Ironie und die komische Selbstrelativierung allen menschlichen Handelns bei Rabelais, Cervantes, Grimmelshausen in den Augen Kunderas zu den größten Erfindungen Europas gehören, ist aus seinen früheren Büchern bekannt.

Hier achtet er vor allem auf jenen Moment, wo bei Cervantes der Vorhang sich zweiteilt und den armen Alonso Quijano hervortreten lässt, der sich zur Heldengeschichte eines fahrenden Ritters aufmacht, statt dessen sich aber in die Welt der Prosa, des prosaisch Konkreten, Alltäglichen, körperlich Banalen verliert. Don Quijote und Sancho haben beispielsweise immerfort Zahnweh - was kümmerten hingegen Homer die im Nahkampf ausgeschlagenen Zähne von Achill und Ajax? In Sternes "Tristram Shandy" versucht anderthalb Jahrhunderte nach den Fuchteleien Don Quijotes dann Vater Shandy mehrere Kapitel lang, mit der linken Hand das Taschentuch aus seiner rechten Tasche zu ziehen und gleichzeitig mit der rechten die Perücke abzunehmen. Bei Dostojewskij schlagen wieder ein Jahrhundert später die Uhren unablässig die Stunde und erinnern an die Eitelkeit allen Tuns. Und doch haben diese Belanglosigkeiten ihre eigene Schönheit.

In zahllosen Einzelbeobachtungen und Anekdoten stellt Kundera ihnen über kurze Kapitel nach und skizziert jene Welterfahrung, die allein der Roman zur Darstellung bringen kann, sei es durch szenische Ereignisverdichtung wie bei Scott, Balzac, Dostojewskij oder durch enttheatralisierende Ereignisauflösung ins Banale wie bei Flaubert. Die epische Kunst ist auf Handlung gegründet. Im Unterschied zum Heldeneposdichter weiß der Romanautor aber um die Fragwürdigkeit aller Handlung und lässt dieses Wissen bald als Farce, bald in der verfeinerten Form des Humors komisch durch seine Welt schimmern. Kunderas Idealgenealogie läuft entsprechend nicht vom emphatischen Victor Hugo zu André Gide oder Solschenizyn, sondern von Flaubert zu Kafka, Musil, Broch, Gombrowicz - und damit in jenes Zentraleuropa, das er in diesem Buch mit neuer Huldigung feiert.

Wiederholt hat Milan Kundera schon seine Untröstlichkeit darüber bekundet, dass Europa seine Literatur - anders als etwa seine Musik - nicht als historische Einheit zu denken vermochte. Die Romanliteratur ist national katalogisiert. Für Kundera ist das ein "nicht wieder gut zu machendes intellektuelles Scheitern". Selten war seine Gegenskizze der großen europäischen Literaturräume aber so gelungen wie in diesem Buch. Der westeuropäischen, vorab französischen Entwicklung vom Klassizismus und Rationalismus zu den großen realistischen Romanen des neunzehnten Jahrhunderts stehe, so schreibt er, in Zentraleuropa beinahe symmetrisch der Weg vom ekstatischen Barock zu einem moralisierenden, episch wenig ergiebigen Biedermeier, gleichzeitig aber zur grandiosen Dichtung und Musik der Romantik gegenüber. Entsprechend seitenverkehrt sieht Kundera den Sprung in die Moderne. Führte sie im Westen antirealistisch in die lyrische Rebellion Baudelaires und Rimbauds, die auch der Wagnerschen Ekstase nicht abgeneigt war, so zielte sie zwischen Ostsee und Donau gegen die Tradition des Romantisch-Sentimentalen auf ironische Brechung, Luzidität, Distanz.

Das Schematische solcher Gegenüberstellung verschwindet, sobald Kundera sie mit Erfahrung durchtränkt. Beim Suchen etwa in den Salonunterhaltungen von Stendhals "Lucien Leuwen" nach Stichworten, die der zentraleuropäischen Erfindung des "Kitsch" am besten entsprächen, wird er schnell und überzeugend fündig: Ein vergleichbares Maß ästhetischer Missbilligung wie gegen die "Tyrannei der Operntenöre" im Kitsch erreicht im Westen nur das Wort "Vulgarität". Doch stehen die beiden Erfahrungen einander fremd gegenüber. Als, so erzählt Kundera, in den ersten Wochen nach seiner Emigration ein Pariser Intellektuellenfreund ihm pathetisch mit den Worten "Verfolgung", "Gulag", "Polizeiterror" kam, habe er mit einer Geschichte von der Gängelung der Polizei in Prag durch kuriosen Wohnungs- und Frauentausch geantwortet. Sein Gesprächspartner fand das gar nicht komisch. Zwei nicht nur ästhetische Haltungen prallten aufeinander - "der gegen Kitsch allergische Mann traf auf den Mann, der gegen Vulgarität allergisch war".

Dem Plädoyer für den Roman als Kunst- und Lebensform braucht man nicht in alle Konsequenzen zu folgen. Sollen wir die Genese eines Romanciers tatsächlich als "antilyrische Konversion" verstehen, in der ein Autorensubjekt aus der Befangenheit des auf sich selbst fixierten Dichter-Ichs erwacht? Wäre dem so, gäben wir auch dafür nicht viel, was hinter dem zerrissenen Vorhang episch zum Vorschein kommt. Die Welterfahrung der Dichtung ist oft weiter und offener als die des noch so ausufernden Romans. Das Buch "Hundert Jahre Einsamkeit" von Gabriel García Márquez sei eine schneidende Entgegnung auf die Romanverachtung der Surrealisten, schreibt Kundera. Mag sein.

Wo aber ist die Einsamkeit, die Kundera im Alterswerk Picassos, Fellinis, Beethovens - und gerade in keinem Roman - treffend evoziert, weltgesättigter aufgetreten als bei Rilke oder René Char? Die "Moral des Wesentlichen", für die Milan Kundera in diesem Buch plädiert und die er mit seinem Verzicht auf nachgereichte Romanpublikationen seit Jahren auch vorbildlich praktiziert, ist bei den Dichtern höchstes Gebot. Als Lese- und Lebenssplitter bleibt jenes Wesentliche in diesem wunderlichen Buch, das im französischen Original noch den Untertitel "Essay in sieben Teilen" trug, wie in einem Vorhangsaum tausendfach hängen. Uli Aumüller hat es, mit Ausnahme eines logischen Fehlers auf Seite 127, in seiner Übersetzung sorgfältig eingesammelt und elegant übersetzt.

MILAN KUNDERA: Der Vorhang. Aus dem Französischen von Uli Aumüller. Carl Hanser Verlag, München, 2005. 224 Seiten, 19,90 Euro.

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