Megacitys - die Städte der Zukunft (XIII und Schluss):Los Angeles: Der diebische Engel

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Filmstars, Wasser, Palmen, Träume: Alles klaut sich diese Stadt von irgendwoher zusammen und verwandelt es.

Chris Abani

Die Hälfte der Weltbevölkerung lebt in Städten. Schon 2015 wird es weltweit 60 Megacitys geben, in denen mehr als 700 Millionen Menschen zu Hause sein werden. 12 Schriftsteller aus einigen der größten Städte der Welt haben uns bisher ihren Heimatort beschrieben. Chris Abani, der die Serie mit einem Text über Lagos begann, wird sie mit einer Liebeserklärung an seine heutige Heimatstadt Los Angeles beenden.SZ

Anfang Mai 2007: Ein kontemplativer Blick auf die Buschfeuer bei den Hügeln um Griffith-Park in Los Angeles. (Foto: Foto: dpa)

Es wurde oft schon gesagt, dass Los Angeles ein anderer Ort sei als L.A. Das Los Angeles der Filme, das von Hollywood und Ruhm, das Los Angeles der plastischen Chirurgie und der reichen Ehefrauen, die Kinder im siebten Monat per Kaiserschnitt zur Welt bringen, damit auch ja ihr Bindegewebe nicht erschlafft; Rodeo Drive, Pretty Woman: diese Stadt und die Leute, die darin leben, sind L.A. Wir, der ganze Rest, wir leben in Los Angeles. Das aber ist ein viel komplizierterer und widersprüchlicherer Ort, als alle immer denken.

Ein Gesicht wie altes Leder, dunkel wie ein Fenster in der Nacht - der junge Mann aus Sierra Leone saß wartend an der Bushaltestelle. Um von einem Job zum nächsten zu gehen. Warten. Auf das neue Leben, von dem man ihm versprochen hatte, dass es hier losgehen würde. Warten. Darauf, dass es ihm gelingt, all das Blut zu vergessen. Warten. Sorgfältig befeuchtet er seinen Stift, um dann seine Träume in einer zerlesenen Ausgabe eines Buchs von Jackie Collins zu unterstreichen.

Wie ich nach Los Angeles kam? Ich habe im Atlas die Seite mit den USA aufgeschlagen, die Augen zugemacht und den Finger irgendwo hingesetzt. Als ich die Augen wieder aufmachte, zeigte er auf Kalifornien. Da meine Finger aber die Größe kleiner Würstchen haben, war schwer zu sagen, wo in Kalifornien. So beschloss ich, dass das Los Angeles bedeutete, weil ich wusste, dass einige Freunde da lebten, die mich für einige Zeit aufnehmen würden. Auf die Art enden die meisten an dem Ort, an dem sie leben: Wir machen Dinge, die reiner Zufall zu sein scheinen, irgendwann glauben wir darin ein Muster zu erkennen, das wir dann als Vorsehung interpretieren.

Multikulturelle Stadt, die: In einem Lexikon würde dieser Begriff einen Ort umschreiben, in dem verschiedene Kulturen ineinander übergehen oder zumindest in fließenden Übergängen existieren. In Los Angeles ist das Gegenteil der Fall: Viele Kulturen grenzen aneinander, gehen aber nie ineinander über. Los Angeles ist eine streng nach Rassen getrennte Stadt. Das fing an in den vierziger Jahren, als der damalige Polizeichef Parker die Stadt gewaltsam in Zonen einteilte und dabei auch eine weiße Sicherheitszone einrichtete. Diese Hinterlassenschaft hat sich aufgelöst, trotzdem: Irgendwas führt dazu, dass sich hier alle - Anglos, Latinos, Afroamerikaner, Chinesen, Koreaner, Japaner, Äthiopier und so weiter - von sich aus in ihr jeweiliges Viertel zurückziehen. Kann sein, dass L. A. die meisten Ausländer der Welt beherbergt, in Los Angeles jedenfalls leben sie alle in streng getrennten neighbourhoods.

In Los Angeles sind die Polizeihubschrauber mit Kameras und Suchscheinwerfern ausgestattet und kreisen Tag und Nacht über der Stadt. Wie unzufriedene Greifvögel, die die nächsten Unruhen wittern, den nächsten Mord oder Autodiebstahl. An heißen Tagen wirkt es, als hätte sich ihnen die ganze Stadt unterworfen. An dunstigen Tagen schweben die Wolkenkratzer der Innenstadt durch den Smog wie die Türme eines märchenhaften Camelots. Trotzdem: Los Angeles ist kein postapokalyptischer Staat, das hier ist nicht Blade Runner.

Die Walt Disney Concert Hall in Downtown sieht aus wie ein Segelschiff, das auf Kollisionskurs gegangen ist mit der hässlichen katholischen Kirche, die an einen Gulag erinnert. Sogar in diesem Fall, in dem sie doch so modern und hip wirken will, scheitert die Architektur, weil sie so interessant tut und gleichzeitig in Richtung Selbstgeißelung geht. Die Disney Hall schaut aus wie das Guggenheim Museum von Bilbao. Kein Wunder. Natürlich tut sie das, schließlich wurden beide von Gehry entworfen.

Los Angeles ist eine Elster. Die Stadt klaut sich alles zusammen: Schriftsteller. Filmstars. Wasser. Träume. Palmen von den Kanaren. Eukalyptus aus Australien. Bougainvillea aus Brasilien. Fast alles, das heute zu Los Angeles gehört, kam von irgendwo anders her.

Ein Sonnenuntergang, wie man ihn in Hanoi vom Bug eines Kanus aus sehen kann, das gerade seine Fischernetze in einen riesigen Ozean auswirft; der Sonnenaufgang über einem stoppeligen Hügel in Ostnigeria, Strahlen, die die Wolken in einer Feuerkrone schreddern; der nachmittägliche Kupferton auf einer alten Mauer, wie einer dieser seltenen, sonnigen Herbsttage in New England; harsches Mittagslicht auf dem Broadway-Verkehr, der den Teer zu Lakritze schmelzen lässt; und ein fauler Abend in Santa Monica, an dem eine tagesmüde Sonne seufzend in einem Ozean verschwindet, der auch vor Kenia liegen könnte.

Die Frau, der ihr Haar über die Schultern fällt, in üppigen schwarzen Locken, die nach Öl und verlorenen Träumen riechen, läuft gerade zu den billigeren Schmuckläden an der Ecke Broadway, Siebte. Sie trägt High Heels, die nicht für diesen kaputten, aufgebrochenen Bürgersteig gemacht sind. Sie lutscht ein Minzbonbon und sehnt sich nach einem reichen Haus am kaspischen Meer. Und sogar hier noch verachtet sie die Armen.

In der Bar im Standard Hotel besteht eine Wand aus einem Aquarium, in dem weder Wasser noch Fische sind. Stattdessen sitzen darin Schauspieler, die aus einem Buch vorlesen, sich im Bikini rekeln, vorkochen oder zeigen, was immer sonst sie gut können. Manchmal schaue ich mich um in der Erwartung, alleine unter Fischen zu sein, die in einen Tank voller Menschen glotzen. Aber nein, da drüben, in der Ecke klügeln ein Regisseur und zwei Stars den nächsten Deal aus. Und die Paparazzi hängen in den Ecken rum wie einsame Alkoholiker. Sie wollen um jeden Preis den abgewrackten Schauspielern da hinten aus dem Weg gehen, die sonst ihre Aufmerksamkeit kaufen würden, indem sie ihnen Drinks rüberschicken. Es ist wirklich ziemlich traurig. Einer von ihnen fragt mich, was ich mache.

- Schriftsteller.

- Habe ich vielleicht irgendwas gesehen von dem, was Sie geschrieben haben?

- Ja, bei Barnes and Nobles.

- Oh, gleich auf DVD, fragt er, mit aufflackerndem Interesse im Blick.

- Nein, Bücher.

- Bücher?

- Ja, wie DVD's, bloß mit Seiten.

Er schaut weg: Eine Frau tritt ein, die Hillary Duff sein könnte. Sie ist es wohl nicht, aber wer kann das mit Sicherheit sagen Das ist Lipstick city, alle schauen gleich aus. Sogar ich könnte als schwarzer Orson Welles durchgehen. Den Körperumfang dazu habe ich jedenfalls.

Die endlosen Freeways gleichen Flüssen, die die Angst dieser Stadt rausspülen in die See; ihre Namen klingen so kraftvoll wie altes Hebräisch: 405 North, 110 South, 101 North, 605 East: wie die Längen- und Breitengrade einer Schatzkarte, auf der die Angelos umherirren, immer auf der Suche nach ihrem Traum von sich selber.

Das Encounter Restaurant liegt mitten im internationalen Flughafen wie ein Raumschiff aus den Siebzigern. Es wurde entworfen von einem afroamerikanischen Architekten, der seine großen Jahre zur Hochzeit der Rassentrennung hatte. Da er nicht neben seinen Kunden sitzen durfte, lernte er kopfüber zu zeichnen, so dass er ihnen gegenüber sitzen und ihnen trotzdem seine Ideen skizzieren konnte, als säße er neben ihnen.

Ein fleischiger Polizist durchsucht eine Prostituierte sehr gründlich nach Drogen, von denen beide wissen, dass sie nicht da sind. Und sie, das Gesicht wie die alte Steinmauer hinter ihr, dreckig, müde und geschminkt mit graffitiähnlichem Make-up, bläst Rauch in die Nacht. Rauch und Scham.

Unsichtbar für das Anglo-Auge, füllen Mexikaner und andere braune und schwarze Leute die Service-Industrie. Mähen Rasen, wischen Tische, hüten Kinder, putzen Häuser, holen Müll ab und machen all die Sachen, die keiner von uns machen will. Neuerdings wird darüber geredet, dass Los Angeles zu einer braunen Stadt werde, weil der neue Bürgermeister Mexikaner sei. Was heißt da werden. Aus dem Flugzeug sieht es nachts so aus, als würden sich die Lichter von Los Angeles wie heiße Lava durchs San Fernando Valley ergießen.

Die Stadt hat unter dem Titel ,,Eine Gemeinschaft von Engeln'' ein Kunstprojekt ausgeschrieben: Künstler sollten lebensgroße Engel aus Fiberglas herstellen und in der ganzen Stadt aufstellen. Der Engel, der einem den Weg weist ins County Hospital in East LA, ist ein depressiver, algenzerfressener, gefallener Engel in der Mauser, der einem eher den Weg in die Hölle als in den Himmel zu zeigen scheint. Andererseits hatte ich immer eine etwas morbide Vorstellungskraft.

Los Angeles ist im Funkeln des Los Angeles River zu finden, der sich unter den wunderbaren alten Brücken von East L.A. hindurchwindet. In der Kakophonie der Farben und Formen, in den riesigen Pinata Stores auf der Olympic. Und haben Sie den Mann gesehen, der einen lebensgroßen lila Holzaffen auf Rädern die Cesar Chavez entlangzieht, und dabei schaut, als sei das das Normalste von der Welt? Die Leute, die ihm Platz machten, nehmen ihn überhaupt nicht wahr. Los Angeles ist in dem Klipp-Klapp von Pferden, die eine Hochzeitskutsche ziehen, in einem strahlenden Weiß, das dem Staub und Dreck widerstand. Der Kutsche folgen langsam stauende Autos. Und es ist im Solo eines arbeitslosen Saxophonisten, der im Sunny's Cafe, unten im Leimert Park für ein wenig Trinkgeld spielt.

Sie haben mal eine Untersuchung gemacht: Leute, die hier lebten, wurden gebeten, die Stadt zu zeichnen, in der sie zuHause sind. Die korrektesten Zeichnungen stammten von jenen, die am kürzesten da waren, ungefähr fünf Jahre. Nach zehn Jahren zeichneten die Leute ihre täglichen Wege und Abkürzungen, die nichts mehr mit einem maßstabsgetreuen Stadtplan zu tun hatten. Nach zwanzig Jahren hatte ihr Stadtbild nichts mehr zu tun mit irgendetwas außerhalb ihrer eigenen Vorstellung.

Los Angeles ist wie jede andere Stadt auf der Welt, sie nährt unsere tiefsten Sehnsüchte nach Anonymität und Ruhm, nach Unsichtbarkeit und Unverwechselbarkeit, nach einer Welt, die größer ist als wir und dennoch in uns liegt.

Deshalb lieben wir Städte. Sie verwandeln uns genauso wie wir sie.

Diese Stadt, jede Stadt, ist unsere Hoffnung, dass wir dazu in der Lage sind, uns zu entwickeln.

Deutsch von Alex Rühle

Los Angeles wurde 1781 als spanische Siedlung mit dem Namen ,,Die Stadt unserer lieben Frau, der Königin der Engel von Portiuncula'' gegründet. 1835 wurde Los Angeles Hauptstadt der mexikanischen Region Alta California und nach dem amerikanisch-mexikanischen Krieg 1848 den USA angegliedert. Heute leben in der zweitgrößten amerikanischen Stadt rund vier Millionen Menschen, im Bezirk mehr als 15 Millionen. Fast die Hälfte der Bevölkerung von Los Angeles wurde außerhalb der USA geboren.

Ganz so locker, wie er hier schreibt, kam Chris Abani nicht nach Los Angeles: Der 1967 in Nigeria geborene Schriftsteller und Jazzmusiker beschrieb 1985 in seinem ersten Buch einen faschistischen Putsch in seinem Heimatland. Nach einem tatsächlichen Umsturzversuch zwei Jahre später behauptete die Regierung, Abani habe mit seinem Buch eine Art Gebrauchsanweisung geliefert. Er landete zum ersten Mal im Gefängnis. Für sein zweites Buch wurde er zu einem Jahr verurteilt, das dritte brachte ihm ein Todesurteil und 18 Monate Einzelhaft. 1991 konnte Abani nach London fliehen, von wo er nach Los Angeles zog. Seine Erfahrungen mit Folter und Haft verarbeitete er in fünf Gedichtbänden, über die Harold Pinter sagte, sie zu lesen, sei so, ,,als würde man mit einem glühenden Eisen versengt". Auf Deutsch erschien von ihm der Roman ,,Graceland" (C.H. Beck, 2004).

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