Medien und Politik:Alle Macht den Apparaten

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Geplapper im Netz, Hinrichtung auf dem Handy: Lichtgestalten wie Despoten werden in Lichtgeschwindigkeit entzaubert. Aber wer hat dann noch das Sagen?

Hans Leyendecker

Um herauszufinden, was heute noch Macht ist, schadet es nicht, auf einem der trostlosen Berliner Empfänge herumzustehen. Neulich, zur soundsovielten Wiederkehr des Tages, an dem Friedrich II. den Befehl zum Anbau von Kartoffeln erließ oder wieder mal ein politischer Salon gegründet ward, da stand am Tisch nebenan Gregor Gysi von der Linkspartei PDS.

Sturmreif geschossen von der schönen Landrätin: Edmund Stoiber. (Foto: Foto: dpa)

Er redete darüber, dass "Politiker oft ratlos, hilflos oder ohnmächtig" seien. Ein Staatssekretär, der schon manchen Minister geleitet hat, griente in Richtung des ehemaligen Senators Gysi, als eine schrille Dame einen Einwand machte: "Die draußen sehen das aber anders!"

"Die drinnen auch", erwiderte schnell der Spitzenbeamte, "das ist nämlich das Problem: Die wissen nicht, ob sie den Mächtigen oder den Ohnmächtigen spielen sollen". Unter uns, und bitte sagen Sie es nicht weiter: Der grienende Bürokrat hatte schon sehr Recht.

Politik ist für die drinnen eine der aufwändigsten Illusionen, dem Leben einen Sinn zu geben. Die ausschließliche Beschäftigung mit Politik kann sogar zu geradezu verheerenden Ergebnissen führen, auch bei uns Journalisten zum Beispiel, die wir oft nicht merken, wie uninteressant wir oder unsere Ansichten für den Rest der Welt geworden sind.

Ernsthaft diskutieren wir über Monate Fragen, die für das Wohlergehen des Landes relativ belanglos sind, wie nur zum Beispiel: Ist der bayerische Ministerpräsident Doktor Stoiber immer noch mächtiger als die CSU-Landrätin und "schöne Rebellin" Doktor Pauli?

Pauli ist schlimmer als die bayerische SPD

Dass Frau Pauli Herrn Stoiber schon mehr demütigte als dies je einem bayerischen Sozialdemokraten gelingen wird, ja, das ist dabei nicht einmal ganz uninteressant für unsere kleine Nachforschung über die Macht. Aber dazu später ein wenig mehr.

Gegen aufkommende Selbstzweifel ("Was mache ich hier eigentlich?") versuchen sich Mächtige seit eh und je mit einem Heer folgsamer Referenten, Luftwaffenjets, auch mit Leibwächtern und gepanzerten Limousinen zu schützen. Ein ziemlich interessanter Fall ist zum Beispiel der frühere Gesundheitsminister Horst Seehofer.

Als er noch in Helmut Kohls Kabinett war, hatte das Bundeskriminalamt aus Sicherheitsgründen sein Privathaus mit Außenkameras ausstatten lassen. Nach dem Abschied aus dem Amt blieb ihm die Beobachtungsanlage erhalten, obwohl das Gerät nur noch schattenhafte Bilder eines Machtlosen und vermutlich das eine oder andere Eichhörnchen in dessen Garten zeigte - eine Multimediaanlage, deren Bilder auch den untergeherischen Dramen des großen Thomas Bernhard gut angestanden hätte, in denen entmachtete Könige auf Parkbänken dämmern und Adelsgesellschaften mit dem Balkon in die Tiefe stürzen.

Seehofer, schon immer einer der intelligentesten und interessantesten Figuren im Betrieb, sprach damals viel davon, wie ihn die Sucht nach der Macht fast umgebracht hätte, da sie ihn eine Krankheit ignorieren ließ. Dann wurde er "Bundesminister für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft". Seitdem muss er keinem mehr erklären, warum der Monitor da steht.

Gefährdung ist ein wesentliches Merkmal der Macht, vor allem wenn, wie zum Beispiel bei der CSU ausschließlich, die Gefahr von innen kommt.

Politik übt, wie gesagt, auch auf Journalisten eine magnetische Kraft aus. Sie kann ihnen, was von berufswegen nicht so toll ist, einerseits helfen, sich die graue Wirklichkeit vom Leib zu halten. Anderseits fühlen sie sich bedeutend, wenn sie beim Staatsbesuch in Timbuktu mit dem Tross durchgewunken werden, während für die grandios glotzenden Einheimischen die Ampeln auf rot stehen.

Seit Tagen geistert auf der Video-Plattform www.youtube.com eine Aufnahme von Saddams Hinrichtung. (Foto: Foto: ddp)

Überhaupt wäre es interessant, zu prüfen, ob die einstige Begeisterung vieler Wegbegleiter für den realen Sozialismus auch ein bisschen damit zusammenhing, dass sie bei Moskau-Besuchen in Limousinen mit Gardinen kutschiert wurden und Vorfahrt hatten.

Macht ist und war immer ziemlich grundsätzlich: wenn die Regeln des Normalen nicht mehr gelten.

Berlin nun ist recht wesentlich ein heruntergekommenes Eiland im märkischen Sand, mit Bewohnern, die nicht viel zu lachen haben und das auch nur ungerne tun, es sei denn, über ihre eigenen lauten Witze. Berlin eigen ist eine traditionell aufgekratzt durch den Käfig hetzende Politik-, Kultur- und Schreiberszene, meist Zugereiste, die - Käfig - um sich selbst kreisen.

Berlin interessiert nicht

Über was da in den sehr vielen Kolumnen und Betrachtungen geredet wird, das finden andere Leute in Deutschland oft so interessant wie, sagen wir, die Fehde zwischen Düsseldorf und Köln im Rheinland, nämlich: nicht.

In dieser Stadt nun versuchen täglich tausende Angehörige des Politbetriebs, normale Wertigkeiten außer Kraft zu setzen. Dabei kapseln sie sich in Ein- bis Zwei-Zimmer-Appartements aus Gussbeton von der Wirklichkeit ab, schuften 80 bis 100 Stunden, ihr Bezug zur Welt sind Pressespiegel und Agenturmeldungen, die sie durchforsten, um zu schauen, ob sie erwähnt werden und es sie also gibt. Ist das Macht? Nein, das ist eine Suche nach dem Lebenssinn: Wer bin ich? Bin ich überhaupt?

Die diesen Ministerien vorstehenden Politiker hingegen scheuen sich oft, Macht auszuüben, sie spielen sie stattdessen mehr und mehr vor. Dann mühen sie sich, mit der Geste eines Napoleon neun hölzerne Kegel umzuwerfen. Sie vergeben Ämter und versprechen im Wahlkampf, für oder gegen etwas zu sein.

Wird einer dabei konkret, gibt er später eine Dartscheibe ab, aber immerhin: Wer es aus dem mittleren Management des Betriebs in die Tagesschau bringt, hat es weit geschafft. Das gilt auch für Politiker vom Phänotyp Ludwig Stiegler, die selbst einfache Dinge auf Lateinisch sagen können, wenn das Rotlicht mal an ist. Wirklichkeit ist hier, was als Wirklichkeit ausgegeben wird.

Lügen im Wahlkampf - na und?

Als Vizekanzler Müntefering - der klassische Funktionär - neulich meinte, es sei "unfair", die Regierungsarbeit an den Wahlkampfaussagen zu messen, forderte er nicht die Absolution von Lügereien. Der Sauerländer war nur wahrhaftig: Wer wollte bezweifeln, dass im Wahlkampf gelogen wird? Nicht mal Müntefering. Wer jetzt mit dem Lügenausschuss kommt, muss in die Ecke.

Gewinner in diesem politischen Spiel ist, wessen zeitweilige Version von der Wirklichkeit vorübergehend von einer Mehrzahl der Wähler geteilt wird. Von denen wiederum haben nicht wenige - das passiert ja auch oft in Zweierbeziehungen - schon die Antwort parat, bevor die Frage gestellt wird. Am Ende kommt es darauf an, wer wieder schuld ist.

Der Finanzminister, der es für bedenkenswert hält, für die Altersversorgung auch mal auf einen Urlaub zu verzichten, hat recht und ist ein Narr zugleich, weil so viel Offenheit nur schaden kann. Routinierte Empörung darüber, dass der oder die an irgendwas schuld sind, ist angesichts der verwinkelten Welt der sicherste Boden für die Rechthaber auf den Bänken der Opposition und in den Leitartikelspalten.

Die klassische Definition des Machtbegriffs hat der Soziologe Max Weber geliefert: "Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht."

Öfter als früher sind es heute Frauen, die für Veränderungen sorgen, und ebenso oft wird das von Männern als Niederlage missverstanden. Stoiber, den seine Gegner einst das "blonde Fallbeil" nannten, habe manchmal "ein Problem, mit Frauen in der Politik umzugehen", hat Frau Pauli erkannt.

Ach, Gnädigste, aber doch nicht nur der! Willy Brandt, der linke Patriot, ist in seiner Partei schon 1987 darüber gestolpert, dass er die Griechin Margarita Mathiopoulos, 30, zur Sprecherin der SPD machen wollte. Seine Entscheidung galt anderen als Beleg für Realitätsferne. "Willy Gaga?" fragte baff der Spiegel.

Nach über 24 Jahren trat Brandt als Parteivorsitzender zurück, und die Dame, die parteilos war, ist dann nicht Genossin geworden. Sie sitzt heute in außenpolitischen Gremien der FDP und ist auch noch die immerhin Exfrau des CDU-Politikers Pflüger. Dass viele Jahre später die Sozialdemokratin Andrea Nahles, die über die "Mechanik der Macht" so viel schon gesagt hat, Müntefering versehentlich vom Parteivorsitz wegputschte, war ein Missverständnis. Kann ja mal passieren.

"Warum will Angela Merkel den Bruch mit mir?" notierte der beleidigte Elefant Helmut Kohl während der Parteispendenaffäre am 22. Dezember 1999 in sein Tagebuch. Da hatte er gerade erfahren, dass die damalige CDU-Generalsekretärin Merkel ihm (nicht persönlich, sondern praktischerweise in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung) den Rückzug aus allen Ämtern vorschlug.

Früher hieß er "Würger von Wolfratshausen"

Kohl legte gleich mal den Ehrenvorsitz nieder. Dass kurz darauf Wolfgang Schäuble seinen Posten als CDU-Chef an Frau Merkel verlor, war wirklich nicht ihre Schuld, beziehungsweise vielleicht nur ein bisschen. Der einst so mächtige Stoiber? Ist für Angela Merkel nichtmal ein Gegner. Als er die Richtlinienkompetenz der Kanzlerin in Frage stellte, sagte sie in einer Fraktionssitzung knapp: "Das mit der Richtlinienkompetenz ist im Grundgesetz festgehalten, und das Grundgesetz gilt auch dann, wenn der Kanzler eine Frau ist."

Da soll der vormalige "Würger von Wolfratshausen", der mal der stolzeste Ministerpräsident Deutschlands mit unzweifelhaften Erfolgen war, kopfloser dagesessen haben als lange zuvor. As time goes by . . .

Neulich sagte ein Kollege, der sich auskennt mit der CSU, die Frau Pauli habe den Stoiber sturmreif geschossen, zur eigentlichen Erstürmung werde sich in absehbarer Zeit schon jemand finden, zum Beispiel der schlaue Seehofer, dessen Überwachungskameras einst nur Eichhörnchen filmten.

Aber sturmreif geschossen wurde Stoiber - Bayern ist auch hier das Land von "Laptop und Lederhose" - durch das Internet. Seit nunmehr einer kleinen Ewigkeit rasen seine Versprecher durch das Netz, für einen Landesfürsten ein Flurschaden, gegen den eine vermasselte Reform sich überaus harmlos ausmacht.

Saddam und Stoiber auf Youtube

Erst auf www.youtube.com wurde die Lichtgestalt Stoiber zu dem Clown, als der er jetzt dasteht. Vom paranoid blinzelnden Bush bis zum erbarmungslos durch die Falltür rauschenden Despoten Saddam Hussein erzählt dasselbe Portal, oft mit mit verwackelten Bildern, von Mobiltelefonen aufgenommen, Minuten später weltweit (Bush) oder landesweit (Stoiber) verlacht.

Also, da ist die Macht nicht mehr, nicht mehr beim Pomp, bei der Entourage, bei der Inszenierung. Ist das nicht sogar ganz gut? Mag sein, ja. Aber wo ist sie dann?

Die Wege des Internets sind gewunden, mitunter unergründlich, nur, was "hinten rauskommt" (Kohl): also auf den zig Millionen flatscreens gelangweilter Büromenschen, was man dort sieht und hört: es ist profan, lustig, schockierend, und, egal ob bei einem demokratisch gewählten Staatsmann wie Stoiber oder bei einem grausamen Diktator wie Hussein, es ist immer so, wie Macht überhaupt gar nicht sein darf: glanzlos und deshalb entwaffnend wie sonst nichts. Was dem Internet noch standhält?

Es sind die Apparate. Natürlich werden auch die von Menschen gemacht, und das heißt, dass die Menschen im Durchleuchtungs- und Ablichtungsszeitalter des Internets und des "Bild-Leser-Handys" gelernt haben, sich zu verschanzen in den Gängen der Institutionen wie die Leute damals, ganz früher, im alten Preußen des "Hauptmanns von Köpenick".

Natürlich können Apparate, und so sind sie im besten Fall auch gedacht, stabilisierend für die Demokratie sein. Amerikaner werden seit Jahren aus dem Apparat mit einem Strom vertraulicher Dokumente über das Versagen der Politiker, über Folter, geheime CIA-Verliese und mit Informationen über die vor dem Irakkrieg in Gang gesetzte Lügenmaschinerie versorgt.

Zunehmend aber werden Apparate tätig, wenn es mies zugehen soll: Als der deutsche EU-Kommissar Günter Verheugen darüber klagte, dass in Brüssel Mitglieder des Beamtenapparates frei gewählte Regierungen "arrogant und von oben herab" behandelten und Beamte die demokratisch legitimierte Kommissionsspitze wie "Hausbesetzer" traktiert, da begann ein Kampf in den Kulissen.

Plötzlich wurden private Geschichten über den widerspenstigen Deutschen lanciert, am oberen Rand der Dubiosität, begierig aufgenommen und in die mediale Spaßschleife eingespeist. Da bekamen wir Einblick in ein Spiel, das mit den bisher üblichen Beschreibungen von Macht und mit demokratischen Spielregeln nichts mehr zu tun hatte.

Der frühere Balkan-Beauftragte Bodo Hombach berichtete mal, dass er von einem Kommissar die Zustimmung für Projekte auf dem Balkan erhalten wollte. Er fuhr mit einer hohen Beamtin aus dem Apparat zum Kommissar - und diese Dame sagte lächelnd noch im Aufzug: "Auch wenn Ihnen der Kommissar etwas verspricht - glauben sie ja nicht, dass ich das machen werde!"

Die Macht ist im Wasser

Hombach hat das Zitat im Beisein des Kommissars und der Beamtin zu hinterfragen versucht. Der Kommissar aber hat, als die Mächtige das Zimmer verlassen hatte, geseufzt: "Dagegen anzugehen ist so sinnvoll wie der Versuch, Wasser, das die Wände 'runterlauft, mit bloßen Händen aufzuhalten."

Die Macht liegt heute in jenem Wasser. Es ist nicht mehr die Macht der großen Figuren, seien sie Demokraten oder Despoten. Es ist die Macht derer in den großen Figurationen. Die Qualität dieser Apparate ist, dass man sie bei Youtube nicht zu fassen kriegt, man sieht sie weder blinzeln, quasseln, noch hängen.

Epilog: Und die einst Machtvollen? Mogeln sich durch wie wir Normalos. Gerhard Schröder schimpft zwar auf Journaille und rechte Verleger, wittert eine Verschwörung gegen treuherzige Russen, hält ansonsten aber Distanz zur Politik. Ist da endlich mal einer, der nicht an den Zipfeln der Macht hängt, der sich nicht als Versager fühlt?

Ein Ex, den, neben n'bisschen Geldverdienen, vor allem interessiert, wie es Frau und Kindern geht? Den es kümmert, dass sein kleiner Hund von einem größeren Hund gebissen und die Katze operiert wurde? Der im Zug von Berlin nach Hannover brav die Getränke für die Kinder holt? Nun, Schröder geht in dieser Käthe-Kruse-Inszenierung so weit, dass man seine Schmerzen ahnen kann. Aber was soll's. "Die Macht kann nicht milde genug aussehen", sagte Jean Paul. Und die Machtlosigkeit auch nicht.

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