Marianne Beutelrock:"Deine Jugend ist vorbei, bring' die Familie durch"

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Ihre Mutter wird 1945 irrtümlich erschossen, der Vater kehrt nicht aus dem Krieg zurück. Plötzlich muss die gelernte Kindergärtnerin ganz allein ihre vier Geschwister durch die Nachkriegszeit bringen. Ein schweres Los.

Warum sollte gerade dieses Leben verfilmt werden?

Marianne Beutelrock mit ihren beiden Brüdern im Jahre 1955. Sie hielt als große Schwester die Familie nach dem Krieg zusammen. Bald war sie selbst Mutter und die Familie um einiges größer geworden. (Foto: Foto: privat)

Sie hat vier Geschwister zusammengehalten und uns und ihre vier Kinder zu rechtschaffenden Menschen erzogen.

Biografie

Marianne Fiedler, geboren am 18. Juli 1926 in Klostergrab, irgendwo im Sudetendeutschen, in einem Wohnwagen auf einer Vogelwiese, Vater Schausteller, Mutter mit im Geschäft tätig. Die Kindheit war so, wie es sich viele Kinder erträumen: Eine bunte, glitzernde Welt voller Musik - von jedem Karussell erklang eine andere Melodie.

Schulbesuch - natürlich, immer wieder eine andere, wie das bei dem "fahrenden Volk" so üblich ist. Ab dem 5. Schuljahr, Bürgerschule in Oberläutensdorf, 1940 beendet. Im Frühjahr 1940 haben die Eltern das Geschäft verkauft. Die Familie wurde sesshaft. Neue Adresse: Bilin, Prager Straße. Marianne wurde einberufen zum Reichsarbeitsdienst und lernte danach Kindergärtnerin.

Der Vater war inzwischen Obertruppführer beim Reichsarbeitsdienst, die Mutter kümmerte sich, gemeinsam mit der Oma, um den Haushalt und die Familie, die inzwischen schon recht groß geworden war: Die Zwillinge Horst und Ingrid, zwei Jahre alt, Siegfried - etwa vier Jahre alt, zwei Mädchen - die eine 13, Ruth und eben Marianne, 18 Jahre, die Älteste, die Große.

15. Juni 1945. In Bilin, einer kleinen Stadt im Westsudetenland, beginnt dieser Tag so, dass Transporte zusammengestellt werden. Deutsche werden "Heim ins Reich" geschickt. An diesem Tag sollte wohl auch unsere große Familie auf den Transport gehen.

Plötzlich klingelt es Sturm. Im nächsten Augenblick stehen Uniformierte in der Wohnung. Hausdurchsuchung! Wir müssen uns auf den Flur stellen. Nach wenigen Minuten kommen sie zu uns, die wir alle dicht gedrängt um unsere Mutter herumstehen.

Einer der Männer schaut auf eine Liste, die er in der Hand hält, hebt den Kopf und fragt: "Sind Sie Bertha Fiedler?"

"Ja" - "Dann kommen Sie mit! Sie werden standrechtlich erschossen!"

Aus der Mitte ihrer fünf Kinder holen sie unsere Mutter. Sie dreht sich noch einmal um. Sie nimmt ihre Kinder mit diesem Blick ein letztes Mal in sich auf.

"Diesen letzten Blick unserer Mutter werde ich mein Lebtag nicht vergessen", sagt Marianne Beutelrock noch nach Jahrzehnten zu ihren jüngeren Geschwistern. Sollte dieser letzte Blick eine Botschaft sein? Ein Auftrag an die "Große"? Mädel, jetzt bist du an der Reihe, jetzt musst du zeigen, was du kannst. Deine Jugend ist, bevor sie richtig angefangen hat, schon vorbei. Jetzt hast du plötzlich eine große Familie, bring' sie durch!

Die Männer gehen mit unserer Mutter die Treppe hinunter. Wir stehen noch immer im Flur. Die Minuten vergehen. Irgendwann gehen wir aus der Wohnung in den Hausflur an das große Fenster, das zum Hof rausgeht: Das Bild, das sich uns bietet, ist ewig eingebrannt: Vor den Kaninchenställen liegt ein lebloser Körper. Wir wissen sofort, dass das unsere Mutter ist.

Am Abend dieses Tages mussten wir aus unserer Wohnung. Auf dem Marktplatz war Sammelpunkt. Hier verbrachten wir die Nacht. Ein Offizier des Erschießungskommandos kam und teilte mit, dass die Hinrichtung unserer Mutter eine Verwechselung war. Eine Frau gleichen Namens war gesucht worden. Von unserem Vater haben wir nie ein Lebenszeichen erhalten.

Es ging auf den Transport nach Deutschland. Wir kamen nach Freiberg/Sa. ins Umsiedlerlager. Hier starb Horsts Zwillingsschwester an Keuchhusten. In dem Lager wurde ein Kindergarten eingerichtet. Eine der Kindergärtnerinnen war Marianne. [...]

Für Marianne, hielt das Schicksal in diesem Umsiedlerlager in Freiberg, in diesen verwanzten Baracken, das große Glück bereit. Sie lernte Gustav Beutelrock kennen. Ebenfalls Umsiedler, ebenfalls aus Bilin, ebenfalls einer, der alles verloren hatte. Bereits 1946 haben sie geheiratet. Beide haben damals schon sicher gewusst, dass die Familie sofort aus sechs Personen bestehen würde.

Die kleineren Geschwister in ein Heim zu geben, war für beide überhaupt kein Thema. Sie bekamen eine Wohnung in Freiberg. Ein Zimmer unter dem Dach. Die Oma, Ruth, Horst und Siegfried waren noch im Umsiedlerlager. Dieses wurde 1947 aus den Baracken am Rande Freibergs in eine Kaserne verlegt. 1948 dann war es soweit - Familienzusammenführung. Eine Wohnung in Freiberg wurde bezogen. Unsere Oma ging zu der Zeit ins Altersheim. Wir waren immerhin noch sechs Personen, die wir in zwei Zimmern und Küche lebten.

Von 1949 an, also seit der Geburt von Mariannes erstem Kind, Peter, wurden wir nach und nach eine Großfamilie. 1950 kam Susanne zur Welt, 1954 Sylvia und 1958 schließlich Carmen. Wir mussten schön eng zusammenrücken.

1951 hat Ruth geheiratet, 1952 zogen sie und ihre Familie nach Dresden, 1957 siedelten sie ins Schwäbische um. Horst und Siegfried wuchsen auf mit den Kindern Mariannes wie Geschwister.

Die Jahre zogen ins Land. Peter, Susanne, Sylvia, Carmen, Horst und Siegfried wurden immer größer und stattlicher, die Wohnungsfrage musste baldigst gelöst werden. Gustl bekam Arbeit in "Schwarze Pumpe", wir zogen in eine 4-Raumwohnung in Hoyerswerda. Siegfried studierte damals schon, wohnte also nicht mehr zu Hause. Aber immerhin - sieben Personen in vier Räumen. Tanzsäle waren es nicht. Es blieb kuschelig.

Horst heiratete und bekam eine eigene Wohnung - da wurde es etwas weiträumiger.

Inzwischen sind auch Mariannes Kinder alle erwachsen und haben eigene Familien. Sie finden immer wieder den Weg zu ihr, denn sie wissen es - Mutti, Oma, Uroma - hat ein großes Herz.

Ihr Mann Gustav ist vor 10 Jahren, unser Bruder Horst vor 2 Jahren verstorben. Marianne war 42 Jahre lang Managerin einer Großfamilie. Sie hat in dieser Zeit vier Berufe erlernt und ausgeübt, hatte in einer schweren Zeit Verantwortung für die Erziehung und Ausbildung von sieben Kindern.

In den Wirren der Nachkriegszeit hat sie uns vier Geschwister zusammengehalten, obwohl sie selbst vier Kinder hatte. Seit 20 Jahren nun genießt sie ihren verdienten Ruhestand. [...]

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