Marcel Beyer:Was ist Schmackofatz?

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Zum Auftakt seiner Kölner Poetik-Vorlesungen hielt der Schriftsteller einen quicklebendigen Vortrag: der Autor als "Wörterprüfer".

Von Christoph Schröder

Am Magdeburger Bahnhof wird die Herrenmode zum weltanschaulichen Bekenntnis. Der Reisende, der nur für eine Zigarettenlänge aus dem Zug aussteigt, erblickt auf dem Bahnsteig einen jungen Mann in Jogginghose, die auf der Rückseite mit Text beflockt ist: "Total war", steht auf der linken Hinterbacke, "is coming" auf der rechten. Ein Blumenberg-Zitat schießt dem rauchenden Beobachter in den Kopf: "Verbale Mutproben gibt es jederzeit." Etwa 160 Jahre zuvor verfasste in Breslau August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, "der Erfinder des Begriffs 'Schland'", ein Gedicht in der Sprache der Gauner, "der Spitzbubensprache", dem Rotwelsch: "Keris her! Jetzt laßt uns schwadern / Um den Funken in der Schwärz".

Der Satzrhythmus passt vielleicht nicht zufällig exakt auf Haydns Lied "Gott erhalte Franz, den Kaiser", das bis heute, wie Marcel Beyer es ausdrückt, als Erkennungsmelodie zu Auftritten der deutschen Fußball-Nationalmannschaft fungiert. Und schließlich: Ein Geschäft in Berlin, im durch und durch gentrifizierten Bötzowviertel. "Schmackofatz" heißt der Laden und nennt sich selbst "BARF-Manufaktur". Wofür die Abkürzung steht? Biologisch-artgerechtes rohes Futter. "Schmackofatz" ist ein Geschäft für Tiernahrung.

Was hat all das zu bedeuten? Und wie gehört es zusammen? Marcel Beyer ist der erste Inhaber der neu geschaffenen TransLit-Professur am Institut für deutsche Sprache und Literatur der Universität Köln. Seine Auftritte in den kommenden Wochen, unter anderem mit Ulli Lust, die die Graphic Novel zu Beyers Roman "Flughunde" zeichnete, oder mit Iris Drögekamp, die zum selben Roman ein Hörspiel produzierte, sollen über eine konventionelle Poetikvorlesung hinausgehen.

Es soll der intermediale Austausch von Literatur sichtbar werden. Der Lyriker und Romancier Beyer erscheint dafür als Idealbesetzung, nicht zuletzt, weil eben dieser Austausch in seinem literarischen Werk wiederum strukturgebend ist, man denke etwa an die Bedeutung der akustischen Medien in "Flughunde" oder an die Rolle der Fotografie in "Spione".

Unbrauchbares Material gibt es für diesen Dichter nicht

Zum Auftakt aber sprach Beyer allein, er hielt einen mitreißenden und höchst unterhaltsamen Vortrag, in dem er, quasi in einer Doppelhelix, den Prozess der Material- und Stofffindung für lyrische Werke erzählerisch offenlegte. Ergeben also, so fragte Beyer, erratische Beobachtungen von Sprachcodes wie die des beflockten Hinterns am Magdeburger Bahnhof ein Gedicht? Und würde er das Wort "Schmackofatz", "ein Wort zum Schämen", in einem lyrischen Kontext verwenden? Spontane Antwort: selbstverständlich nicht. Und doch sei möglicherweise genau in diesem Augenblick die Hohlform eines Gedichts entstanden, in dem das Schmackofatz plötzlich möglich erscheint. Ein "Wörterprüfer" sei er, sagt Beyer, den ganzen Tag über, im Straßenbild, in der Bahn, am Kiosk im Supermarkt. Unbrauchbares Material gibt es für ihn nicht.

Der Gedanke, dass ein Gedicht alles aufsaugen kann, was da ist, aber auch der Verdacht, dass man als Leser blind sein kann für die Spiegelungen der eigenen Wirklichkeit, hat bei Beyer einen Bezugspunkt: Friederike Mayröckers ersten Gedichtband "Tod durch Musen", der 1966 erschien, und die Rezension dazu in der Zeit durch Helmut Salzinger. Das sei ein Rezensent, so Beyer, der sich Zeit seines Lebens intensiv mit Pop- und Alltagskultur beschäftigt habe - aber unfähig (oder unwillig) gewesen sei, die Versatzstücke von Westernkomödien und Popsongs in Mayröckers Gedichten zu erkennen. Salzingers Leseverhalten, eine Haltung der "aggressiven Defensive", steht für Beyer für eine bis heute gültige "deutsche Sprach- und Lesedeformation: Es sich bei der Lektüre von Gedichten selbst möglichst schwer zu machen".

Am Ende, nach einem Gang durch Raum und Zeit, steht man wieder mit Marcel Beyer am Bahnhof Magdeburg. Von hier aus ist er losgezogen, um den Sprachwelten auf die Fährte zu kommen. Man möchte ihm auch in Zukunft auf seinen Erkundungsgängen folgen.

© SZ vom 29.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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