"Madame Bovary" im Netz:In der Roman-Destillerie

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Der idealen Sprache auf der Spur: Eine 4500 Seiten lange Internet-Edition des "Madame Bovary"-Manuskripts zeugt von Gustave Flauberts Sprachbessessenheit.

Johannes Willms

Das Publikum solle nicht in das Geheimnis des Künstlers hineinschauen, ist eine der vielen Goethe zugeschriebenen Äußerungen. Solchen Einblick in die wahrhaft komplizierte Genese eines der Meisterwerke der Weltliteratur, in Gustave Flauberts ersten und bekanntesten Roman "Madame Bovary", kann man jetzt nehmen. Ein internationales Team von 130 "Flaubertisten" hat in mehr als dreijähriger Arbeit ein riesiges Konvolut von Manuskripten - Entwürfe, Skizzen und Korrekturen -, die Flaubert, der vom September 1851 bis zum März 1857 an diesem Roman arbeitete, hinterlassen hat, entziffert, faksimiliert, transkribiert, mit Zusatzmaterialien versehen und das Ergebnis dieser Arbeit, das über 4500 Seiten umfasst, ins Netz gestellt, wo man es jetzt unter der Adresse http://bovary.univ-rouen.fr/ konsultieren kann.

Die Bibliothèque municipale de Rouen, Flauberts Geburtsstadt, der dieser Schatz von der Nichte Flauberts 1914 geschenkt wurde, hat gemeinsam mit dem Centre Flaubert diese philologisch mustergültige Edition organisiert. Die Vollendung dieser textkritischen Edition von "Madame Bovary" ist eine bemerkenswerte Leistung, denn Flaubert ist für seinen übergenauen Umgang mit der Sprache berühmt.

Der Autor und seine Papiere

Bisweilen, so wird berichtet, habe er tagelang um den treffendsten und gleichzeitig knappsten Ausdruck gerungen. Diese Besessenheit vom "Ideal der Sprache", die Flaubert zeitlebens unter seiner schriftstellerischen Arbeit plagte, lässt sich nun anhand dieser Edition der "Madame Bovary" im Detail überprüfen.

Jetzt wird Gestalt, was bislang nur Gerücht war: Der Roman in der verhältnismäßig schlanken Textgestalt von etwas mehr als dreihundert Druckseiten in der Ausgabe der Bibliothèque de la Pléiade ist das Endprodukt eines wahrhaft titanischen Schaffensprozesses, unter dem sich das Manuskript durch eine Fülle von Einschüben, Korrekturen, Kürzungen, Umstellungen und Erweiterungen zu einem schier undurchdringlichen Labyrinth auswuchs, das die einzelnen Stadien des Schaffensprozesses minutiös nachvollziehen lässt.

Jetzt kann auch das breite Publikum das ganze Ausmaß, das dieser Prozess hatte, genau überblicken. Nun zeigt es sich, dass bei Flaubert das Destillat einer einzigen Manuskriptseite, die ihn zufrieden stellte, aus bisweilen 50 Seiten, die mit Entwürfen und Korrekturen bedeckt sind, gewonnen wurde. Das vermittelt eine unmittelbare Anschauung davon, was die nüchterne Mitteilung, dass die einzelnen Stadien der Manuskriptentwicklung insgesamt 1788 Folioseiten umfassen, während dessen definitive Druckfassung auf 490 Folioseiten eingeschrumpft ist, lediglich andeuten konnte.

Die Genese des Romans "Madame Bovary" ist zum einen deshalb besonders verwickelt, weil sich Flaubert für dessen Ausarbeitung über fünf Jahre Zeit nahm. Mit welchen Schwierigkeiten und Skrupeln er sich mit "la Bovary", wie er das Romanprojekt häufig nannte, herumschlagen musste, davon gibt seine Korrespondenz aus dieser Zeit einen lebhaften Eindruck. Zum anderen erschien der Roman zunächst zwischen Oktober und Dezember 1856 in Fortsetzungen in der von Maxime du Camp redigierten "Revue de Paris".

Verstoß gegen guten Sitten und Religion

Diese Veröffentlichung provozierte einen großen Skandal, der zur Folge hatte, dass dem Autor Ende Januar 1857 ein Prozess wegen Verstoßes gegen die guten Sitten und die Religion gemacht wurde. Dieser Entrüstungssturm braute sich aber bereits unter der Veröffentlichung des Fortsetzungsromans zusammen, weshalb sich du Camp, der ein Verbot der liberalen "Revue de Paris" fürchtete, dazu entschloss, einzelne Passagen des Romans, die besonders geeignet erschienen, Anstoß zu erregen, nicht zu veröffentlichen. Dieses einseitige Vorgehen erregte, wie verständlich, den Widerspruch Flauberts, der die Veröffentlichung seines Protests durchsetzte.

Aber auch die Selbstzensur du Camps fruchtete nichts, und Flaubert musste sich gemeinsam mit dem Herausgeber und dem Drucker der "Revue de Paris" ab dem 24. Januar 1857 wegen Verstoßes gegen die guten Sitten vor Gericht verantworten. Als dieser Prozess Anfang Februar 1857 mit einem Freispruch für Flaubert und die anderen Angeklagten endete, war dies die beste Reklame für den Roman, den der Verleger Michel Levy im April 1857 als Buch veröffentlichte. Für Flaubert war die Vorbereitung dieser Ausgabe natürlich wieder ein willkommener Anlass, das Manuskript der "Madame Bovary" ein weiteres Mal durchzunehmen und es seinem "Ideal der Sprache" anzunähern.

Mit welcher Umsicht und Genauigkeit Flaubert den Plot dieses Romans bearbeitete, der eine reale ehebrecherische Liebesaffäre in der Provinz verarbeitete, die sich um 1850 in dem kleinen Ort Ry bei Rouen zugetragen hatte, zeigen nicht zuletzt die zahlreichen Karten und Skizzen der Orte und Handlungsabläufe, die Flaubert anfertigte und die nun ebenfalls konsultiert werden können. So wurde etwa aus dem Ort Ry das Yonville-l'Abbaye des Romans. Der Leser kann nun gleichsam dem Autor über die Schulter blicken und das komplizierte Werden des Werks genau verfolgen.

© SZ vom 21.04.2009/irup - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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