Literaturnobelpreis:"Ich fühle Musik, wenn ich schreibe."

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Der englische Dramatiker und Cricket-Fan Harold Pinter erhält den diesjährigen Literaturnobelpreis. Sein Werk beleuchte den "Abgrund unter dem alltäglichen Geschwätz", hieß es zur Begründung. Der Preis komme 30 Jahre zu spät, raunen die Kritiker.

Bernd Graff

Der in Hackney im Londoner East End geborene Sohn eines jüdischen Schneiders, habe in seinen Dramen "den Abgrund unter dem alltäglichen Geschwätz freigelegt" und sei "in den geschlossenen Raum der Unterdrückung eingebrochen", hieß es in Stockholm zur Begründung. Pinter gelte als der "hervorragendste Vertreter des englischen Dramas in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts", hieß es weiter.

Harold Pinter, hier bei den 'Evening Standard Theatre Awards 2004'. (Foto: Foto: dpa)

Die Vergabe kam völlig überraschend - doch, wie Kritiker behaupten, "30 Jahre zu spät". So jedenfalls Franz Wille von der Fachzeitschrift "Theater heute" nach der bekanntgabe des diesjährigen Preisträgers. Pinter sei kaum noch präsent auf deutschen Spielplänen. "Da können Sie lange suchen." In den 60er und auch noch 70er Jahren seien von den Texten Pinters einmal wichtige formale und inhaltliche Impulse ausgegangen. Doch: "Die letzten Stücke waren längst nicht mehr auf alter Höhe", so Wille.

Pinter feierte am 10. Oktober seinen 75. Geburtstag. Letzter britischer Preisträger des Literaturnobelpreises war 2001 der in Trinidad geborene Autor V. S. Naipaul.

Harold Pinters Familie stammt aPortugal (mit dem Namen "da Pinto") über Osteuropa (Ungarn) nach England.

Pinter, der Cricket als Hobby angibt, studierte ab 1948 mit einem Stipendium an der Royal Academy of Dramatic Art in London, der prestigereichsten Schauspielschule Englands. Sein Studium brach er jedoch nach einigen Semestern ab. Außerdem verweigerte er den Wehrdienst.

1950 schloss sich Pinter der Wanderbühne des berühmten irischen Prinzipals Anew McMaster an, der Shakespeare in die Ortschaften der Westküste Irlands brachte. 1953 kehrte er nach England zurück.

Als Schriftsteller versuchte sich Pinter seit dem 13. Lebensjahr. Ab 1950 veröffentlichte er Gedichte, und während seiner Bühnentätigkeit brachte er erste kleine Prosastücke heraus. Ein autobiographischer Jugendroman "The Dwarfs" (dt.: Die Zwerge) blieb lange unvollendet (1990 erschienen). Als Dramatiker erregte er erste Aufmerksamkeit bei einem Studententheaterfestival in Bristol mit seinem Einakter "Das Zimmer" (1957). Nach anfänglichen Misserfolgen errang Pinter dann mit seinem Dreipersonenstück "Der Hausmeister" 1960 den großen Durchbruch im kommerziellen Theater Londons und später auf dem New Yorker Broadway.

Mit seinen Theaterstücken, Drehbüchern, Fernseh- und Hörspielen avancierte Pinter im Laufe der 60er Jahre zu einem der führenden Dramatiker im englischsprachigen Raum. In seinen Dramen machte er die Existenzangst des Individuums, das sich in seinem Alltagsleben von unbekannten Mächten bedroht erfährt, zu einem Hauptthema.

Er widmete sich zudem den Fragen zwischenmenschlicher Kommunikation. VSchon in seinem ersten abendfüllenden Stück "Die Geburtstagsfeier" (1958) brachte Pinter den unbehausten Menschen unserer Zeit auf die Bühne.

Nach einem seiner größten Erfolge, "Die Heimkehr" (1965), blieb er, abgesehen von zwei Fernsehspielen, längere Zeit für die Bühne unproduktiv.

Pinter wurde überhaupt im Laufe der Zeit mehr und mehr zu einem Schweiger.

Seine ausgefeilten Einakter gerieten immer kürzer und nur noch als Sammelaufführungen "abendfüllend".

20 Minuten benötigte das 1988 in London in einer Inszenierung als Uraufführung herausgebrachte politische Stück "Mountain Language", das die Repression einer Minderheit durch das Verbot ihrer Sprache zum Thema hat.

1993 kam mit "Moonlight" nach langer Pause wieder ein abendfüllendes Stück zur Uraufführung in London. Peter Zadek inszenierte im April 1995 die deutsche Erstaufführung dieser verrätselten Groteske um ein alltägliches Sterben, das nach Kritiker-Meinung mit "schnoddriger Direktheit, drastischer Komik, mondsüchtiger Poesie" verblüffte.

Er verwundert, erregt nicht nur als Künstler. So agitierte Pinter in Essays und Gedichten gegen Margaret Thatchers Sozialpolitik, später gegen den Golf-Krieg und den Nato-Einsatz in Serbien. Als er sich 2001 dem "Internationalen Komitee zur Verteidigung Milosevics" anschloss, stieß er vielerorts auf Unverständnis.

Ende 2000 wurde im Londoner National Theatre Pinters Bearbeitung von Marcel Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" aufgeführt. In Deutschland war das Stück 2003 am Schauspielhaus Dortmund zu sehen.

Für die typische, halb beängstigende, halb erheiternde Grundkonstellation von Pinters insgesamt 29 Dramen prägten die Kritiker den Begriff "pinteresk": ein enges Zimmer, zwei Personen, Pärchenbildung mit nur gelegentlichem Besuch des einen oder anderen bedrohlichen Fremden.

"Er bringt ein Stück Alltag auf die Bühne, erklärt nichts und niemanden, lässt reden, wie den Leuten der Schnabel gewachsen ist, schafft so eine spannend geheimnisvolle, irritierend rätselvolle Situation. Ein Nachfahre des großen Samuel Beckett", so die SZ vor ziemlich genau fünf Jahren am 10.10.2000, dem 70. Geburtstag des Dramatikers.

Für seinen persönlichen Einsatz für das Schicksal verfolgter Schriftsteller und Journalisten erhielt Pinter 2001 die Hermann-Kesten-Medaille des Landes Hessen und des P.E.N.-Zentrums Deutschland. Für seine Protestverse gegen den Irak-Krieg und die Weltmachtpolitik der USA, die 2003 in dem Buch "War" (dt. Krieg) erschienen waren, wurde er im Jahr darauf mit dem Lyrik-Preis der Wilfred Owen Society geehrt.

Im März dieses Jahres kündigte er in einem Rundfunkgespräch an, dass er in Zukunft keine Bühnenstücke mehr schreiben und sich statt dessen mehr der Lyrik und der Politik zuwenden wolle.

Berühmt ist Pinters Satz aus dem Jahr 2000: "I don't know how music can influence writing, but it has been very important for me, both jazz and classical music. I feel a sense of music continually in writing, which is a different matter from having been influenced by it." (nachzulesen in: "Playwrights at Work", ein Band, der von George Plimpton herausgegeben wurde.)

Pinter war seit 1956 mit der Schauspielerin Vivien Merchant (± 1982) verheiratet und hat einen Sohn Daniel.

1975 trennte er sich von seiner Frau. 1980 wurde die Ehe geschieden. Seit 1980 ist die Historikerin und Schriftstellerin Lady Antonia Fraser Pinters Frau. 2002 musste er sich wegen einer Krebserkrankung operieren lassen.

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