Literatur mit Thomas Steinfeld:Das feuerrote Spielmobil

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Hanns-Josef Ortheils Roman "Die geheimen Stunden der Nacht" liegt zwischen Tratsch und Recherche.

Thomas Steinfeld

Wer fährt eigentlich ein solches Auto? Einen roten Mazda RX-8 mit schwarzroten glänzenden Ledersesseln, ein flaches japanisches Fahrzeug mit Drehkolbenmotor und über zweihundert Pferdestärken, eine Maschine, mit der man, laut Werbung, den "täglichen Spaßfaktor um ein Vielfaches erhöht"? Georg van Heuken fährt ein solches Auto, so will es jedenfalls Hanns-Josef Ortheil, der diese Figur für seinen jüngsten Roman erfunden hat: einen Helden, der morgens in die Garage geht, um sein Gefährt zu betrachten. "Er steht da wie ein exotisches fettes Insekt, das in solchen Standboxen auf ideale Weise gedeiht und bei Sonnenlicht ausrastet.

Vier Türen, vier Sitze - das war der Kompromiß, auf den von Heuken sich gerade noch eingelassen hatte, dafür ist der Wagen immer noch Sportwagen genug, auf den Punkt getrimmt und mit einem leicht arroganten Design, durchaus also etwas für Fahrer, die ihre Runden auch einmal allein drehen wollen."

So ist es auf der zehnten Seite des jüngsten Romans von Hanns-Josef Ortheil zu lesen, und noch oft durchquert das Auto dieses Buch, neben einem älteren Alfa-Romeo und einem schwarzen Mercedes, der allerdings nicht fährt, sondern nur poliert wird.

Die Lehre des weißen Anzugs

Glanzvolle Auftritte von Automobilen sind selten in der jüngeren deutschen Literatur. Gewiss, sie sind nicht immer zu vermeiden. Man stolpert über dieses Blech, wenn man sich auch nur irgendwie mit der Gegenwart beschäftigt, und viele beschäftigen sich sogar gern mit ihnen. Eine solche Beschreibung aber ist anders: Denn sie will den Reiz des Fahrzeugs auskosten, sie will wiedergeben, wie es betört und verzaubert, sie will dessen Bedeutung im Kopf eines wohlhabenden Mannes von gut fünfzig Jahren vermessen - und selbstverständlich will sie auch die Peinlichkeit ausloten, die entstehen muss, wenn dieser gar nicht mehr junge Herr, ein seriöser Verleger von auch literarischen Werken, im nächsten Augenblick mit seinem brummenden feuerroten Spielmobil unterwegs ist.

Das Anliegen, mit der Dichtkunst so nah wie möglich an die Welt, so wie sie auch im Subjektiven ist, heranzurücken, hat Meister in der Beschreibung des lockenden Details hervorgebracht, Meister auch in der Verquickung journalistischer Techniken mit literarischem Schreiben. Tom Wolfe mag der größte von ihnen gewesen sein, und Amerikaner sind die meisten, von denen auch Hanns-Josef Ortheil gelernt hat - nicht wenig übrigens, wie nicht nur seine Darstellung des Mazda RX-8 offenbart, sondern auch sein Umgang mit dem grün-goldenen Etikett von Parfümflaschen der Marke "4711" sowie mit der Glasarchitektur für Bürogebäude unter besonderer Berücksichtigung von Innengärten mit vier "lungernden" kleinen Bäumen.

Tom Wolfe, um bei diesem Meister einer detektivisch inspirierten Literatur zu bleiben, trägt einen weißen Anzug, immer, einen Zweireiher mit einem Einstecktuch. Dieses Kostüm ist weit mehr als ein Markenzeichen. Es ist ein Arbeitsanzug, mit dem er zur Recherche ins jeweilige Milieu auszieht, damit jeder darin sofort erkennt, dass hier ein Fremder kommt, der nach Erledigung seines Auftrags wieder als Fremder gehen wird. "Vermischt euch nicht mit mir", sagt dieser Anzug, "so wie ich mich nicht mit euch vermische. Ich habe nur insoweit Anteil an euch, wie ich euch brauche." Denn es ist das Privileg des fremden Gastes, erkennen zu können, nach welchen geheimen Regeln eine Gesellschaft funktioniert, und er erkennt sie nur, weil die Regeln für ihn selbst nicht gelten.

Hanns-Josef Ortheil aber trägt keinen weißen Anzug. Er würde es auch nie tun. "Zwei Hemden mit diesen seitlich wegfliehenden Spitzen, wie nennt man die bloß? Ein Sakko und zwei Hosen, die dazu passen. Unterwäsche, Strümpfe, ein Paar Schuhe. Was er da einpackt, ist Freizeitkleidung, Casual Look, als führe er für ein Wochenende aufs Land, um sich zu entspannen." Der Held ist es, Georg von Heuken, der hier seine Siebensachen zwecks Erbschaft und Ehebruch zusammenlegt. Doch es könnte genauso gut auch der Dichter selber sein.

Eindeutige Verweise auf Siegfried Unseld

Denn Hanns-Joseph Ortheils Roman "Die geheimen Stunden der Nacht" handelt im hohen Maße von einem Leben, das dieser Schriftsteller für das eigene halten muss. Es sind seine Hosen, die hier gefaltet werden, und er ist es, der, von der Wahl des Autos über den Restaurantbesuch bis hin zur Inneneinrichtung, in den Attributen des bundesdeutschen Reichtums schwelgt. Oder anders gesagt: Dieses Buch ist der Versuch einer Gesamt- und Totalkolportage aus dem deutschen literarischen Betrieb, weshalb der Anteil an Recherche am Ende sehr gering und der Anteil an Tratsch sehr hoch ausfällt - wobei dieser Tratsch, das sei zur Ehre der Person Hanns-Josef Ortheil, aber nicht zur Ehre des Schriftstellers gleichen Namens gesagt, sich im wesentlichen an das landläufig Bekannte hält, also niemanden mehr verletzen kann.

Der Roman spielt in Köln, in einem Medienkonzern, der das Neven DuMont Haus zu bewohnen scheint, und erzählt also von einem großen, alten, vitalen Verleger, der überdeutlich die Züge Siegfried Unselds trägt. Dieser erleidet seinen zweiten Herzinfarkt, und Georg van Heuken, das älteste seiner drei Kinder, macht sich auf, zunächst eher unwillentlich, dann um so entschiedener, die Nachfolge anzutreten. Im Umfeld treten auf: eine Schwester, die, ebenso zurückhaltend wie klug, an Monika Schoeller, die Geschäftsführerin des S. Fischer Verlags, erinnert, und ein Bruder, von dem mancher Leser glauben wird, in ihm den verstorbenen Verleger Karl Blessing wiedererkennen zu können.

Es finden Lektoratskonferenzen statt, es wird über Vertriebsprobleme diskutiert, Neuerscheinungsverzeichnisse werden entworfen, ein paar Jungautoren huschen durch das Bild. Klein ist diese Welt, eine Nische nur im Wirtschaftsleben der Nation, und zudem, da sich das Buch zudem nur auf einen literarischen Verlag innerhalb des gesamten Konzerns konzentriert - warum eigentlich, es geht doch um das gesamte Erbe? - eine Nische, der man keine große Zukunft mehr versprechen kann.

Warum geschieht das? Warum dieser engagierte Blick durch die Schlüssellöcher einer ebenso beschränkten wie bedeutungslosen Branche, ein Blick, der doch kaum mehr als die paar tausend praktisch Beteiligten interessieren dürfte? Warum dieser Aufwand an glänzenden Details, an detektivischem Schreiben? Der Grund für diese Disproportion zwischen Enthusiasmus und Gegenstand ist im Schriftsteller selbst zu suchen, in seiner Unfreiheit der Branche gegenüber. Und wie unfrei er ist - das erschließt sich weniger dadurch, dass Hanns-Josef Ortheil im wirklichen Leben mit einer Verlegerin und Verlagserbin verheiratet ist, sondern durch die Art und Weise, wie er in seinem Werk den ideellen Kern des Buchgewerbes, den Roman und den Romancier behandelt.

Denn nur einmal geht es in diesem Buch um Literatur. Genauer: es geht um sie, indem es nicht um sie geht. Die Frage, ob es Georg van Heuken gelingt, der Nachfolger seines Vaters zu werden, entscheidet sich zu einem großen Teil daran, ob er in der Lage ist, dem Großautor des Unternehmens das Manuskript eines neuen Romans abzuringen. Hinter diesem fiktiven Wilhelm Hanggartner verbirgt sich, unschwer zu erkennen, der leibhaftige Martin Walser - das beginnt bei einem Wohnsitz am Rande Deutschlands, es geht fort über eine demütige Ehefrau, und es endet bei den buschigen Augenbrauen noch lange nicht: "Hanggartner mit Hut und gewaltigem, um den Hals gewundenen und erstaunlich zielsicher nach hinten geworfenem Schal, er lehnt mit dem Rücken gegen einen kalkweiße Mauer, als habe er sich mit jemandem verabredet und warte noch einmal wie ein verträumter Jüngling auf die Marienerscheinung einer Frau aus den Himmeln."

Dieser Hanggartner, ein furchterregend eitler und pompöser Kerl, ein geiler, versoffener Autor, für den der eigene Lektor nur noch ein Schulterzucken übrig hat, einer, der längst leergeschrieben sein soll, der aber von jedem Buch Hunderttausende von Exemplaren verkauft, ist die eigentliche Mitte von Hanns-Josef Ortheils Roman. Und das ist so, weil das Buch sich an dieser Figur von einer mehr oder minder fiktiven Kolportage aus dem literarischen Betrieb in dessen vermeintliche Entlarvung verwandelt.

Wie leicht wäre es gewesen, selbst unter diesen Voraussetzungen, ein wenig vom echten Martin Walser in das Buch einzubringen, von seiner Frechheit, von seiner wahrhaft literarischen, ja sogar erlösenden Schamlosigkeit. Doch wo es, die Notwendigkeit einer Entlarvung einmal vorausgesetzt, darum gegangen wäre, den Reichtum an solcher Hochstapelei zu entdecken, das hohe Maß an Stilisierung und Erfindung, da soll es bei Hanns-Josef Ortheil auf die Dürftigkeit des Porträtierten ankommen.

So werden das wirkliche und das erfundenen Leben, die Erfahrung und die Literatur aneinandergelegt, und alles, was dabei herauskommt, ist billig und schäbig und windig, der Vollrausch eingeschlossen. Auf sehr protestantische Weise wird hier der Pomp auf seine hohle Mitte hin abgeklopft.

Ein sehr durchsichtiger Walser

Das ist bitter. Wie bitter es ist, scheint dem Autor nicht einmal aufzufallen. Mit Liebe, ja Hingabe beschreibt er den Verlag, den Aufbau und die Funktion eines solchen Unternehmens. Mit noch größerer Leidenschaft widmet er sich dessen betriebswirtschaftlichen Dimensionen.

Aber wenn es darum geht, das zu beschreiben, wovon und worin ein solcher Verlag lebt, eben das Buch, den Roman, entpuppt sich der Autor als Verräter - so, als mache er selber nur zum Scherz bei ähnlichen Unternehmungen mit, so, als wäre er eigentlich etwas Besseres und Größeres, etwas, das mit den albernen Zappeleien des Schriftstellers, der hier entlarvt wird, nichts zu tun habe. Es ist diese lächerliche Überheblichkeit angesichts der mehr oder minder eingebildeten Geheimnisse des literarischen Betriebs, die den hohen Anteil an Tratsch in diesem Werk motiviert, und sie ist es, die sich durch die Recherche camoufliert.

Denn was ist der Tratsch, wenn nicht der Versuch, durch Kenntnis der Hintergründe eine vermeintliche Souveränität zu erzeugen, ein Darüber-Stehen und Mitmachen-Wollen zugleich, eine Einheit von Beflissenheit und Arroganz? Denn der Tratsch ist zwar ein Verwandter der Recherche, funktioniert aber auf genau entgegengesetzte Weise: In der Recherche wird der Informant zum Mittel des Suchenden.

Im Tratsch aber dient die Suche vor allem zur Herstellung einer Gemeinsamkeit mit dem Informanten. Deswegen ist der weiße Anzug so wichtig, und deswegen trägt Hanns-Josef Ortheil nur den Anzug seines Helden. Und in dieser Unfreiheit den "Informanten", also den Angehörigen des literarischen Betriebs gegenüber, steckt das ganze Elend dieses Buches.

© SZ vom 30.11.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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