Laurent Cantet:Das Klassenzimmer ist ein kleines Theater

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Das Gegenteil vom "Club der toten Dichter": Regisseur Laurent Cantet spricht über die Wahrheiten des Schullebens in seinem Film "Die Klasse".

Doris Kuhn

Zusammen mit "seinen" Schülern lief er letzten Mai über den roten Teppich von Cannes, dann gewann er dort die Goldene Palme, inzwischen tourt der Regisseur Laurent Cantet mit der "Klasse" aus der Pariser Vorstadt um die Welt. Soziale Wirklichkeit und die exakte Beschreibung auch sehr spezieller Milieus, etwa von weiblichen Sextouristen in "Vers le Sud", haben ihn schon immer interessiert.

Regisseur Laurent Cantet (rechts) mit seinem Hauptdarsteller und Autor François Bégaudeau. (Foto: Foto: afp)

SZ: Ihr Film macht in vielerlei Hinsicht den Eindruck einer Dokumentation aus der Schule. Wie haben Sie das gedreht?

Cantet: Bevor die Dreharbeiten begannen, haben François Bégaudeau, der den Lehrer spielt, und ich sehr viel mit den Schülern gearbeitet. Wir haben uns ein Jahr lang jeden Mittwochnachmittag getroffen und den Film anhand gemeinsamer Improvisationen entwickelt. So kamen immer mehr Sätze und Szenen zustande, die ich die Schüler dann auch im Film spielen ließ.

SZ: Sie haben ein ganzes Jahr geprobt?

Cantet: Es war eine Art Training. Wir konnten uns ein Jahr lang an die Situation gewöhnen. Außerdem ging es auch darum, die Konzentration zu trainieren. Denn die brauchten meine Darsteller vor der Kamera in zweierlei Hinsicht: Sie mussten einerseits sie selber bleiben, andererseits mussten sie auch die Figuren des Films verkörpern.

SZ: Sind diese Figuren erfunden?

Cantet: Nein, ich habe versucht, die Figuren aus dem zu schaffen, was die Schüler mir in den Improvisationen angeboten haben.

SZ: Dennoch spielen die Schüler nicht sich selbst . . .

Cantet: Das ist das Interessante an diesem Film: Es ist keine Dokumentation. Die Schüler spielen darin Rollen, die sie gemeinsam mit mir gefunden haben. Dabei sind manche der Rollen sehr nah an den echten Persönlichkeiten. Andere Schüler haben die erfundenen Figuren benützt, um in deren Schutz zu agieren und zu sprechen. So konnten sie ernsthafter arbeiten, weil sie sich, wenn es nötig war, hinter einer fiktiven Figur verstecken konnten.

SZ: Wie würden Sie dieses Spiel zwischen Fiktion und Wirklichkeit nennen?

Cantet: Ich würde nicht von einem Dokumentarfilm sprechen, sondern von einem dokumentierenden Film. Es ist doch so: Ein Klassenzimmer ähnelt sowieso einem kleinen Theater. Auch in der Realität spielt dort jeder eine Rolle, Schüler wie Lehrer. Alle präsentieren sich auf eine bestimmte Weise - es gibt den Störenfried, es gibt den Witzbold -, und das machen sie während des ganzen Jahres oder während der ganzen Schulzeit. Mein Film folgt einfach diesem Schema.

SZ: Haben Sie auf thematisch ähnliche Hollywoodfilme reagiert?

Cantet: Ich habe einige dieser Filme gesehen und versucht, meine Figuren anders zu behandeln. Das Exemplarische am amerikanischen Film hat mich eher abgeschreckt: Die Lehrer sind alle wunderbar, sie sind Sokrates in Person. Vieles von dem, was sie sagen, klingt wie unvergängliche Zitate. Auch die Schüler sind exemplarisch, sie benehmen sich unmöglich und werden am Ende trotzdem gerettet. Ich wollte Schüler zeigen, die zu unserer unvollkommenen Welt gehören. Mein Film ist das Gegenteil vom "Club der toten Dichter".

SZ: Ihr Lehrer ist trotzdem erstaunlich schlagfertig.

Cantet: Man muss dazu wissen, dass François wirklich zehn Jahre lang Lehrer war. Er hatte also ein Training, er ist geübt im alltäglichen Umgang mit Schülern. Außerdem liebt er die Diskussion, er liebt es zu provozieren, er liebt es, wenn sich Leute um ihn herum in Debatten verstricken, und er kann das sehr gut steuern. Das ist tatsächlich die Art, wie er sich seinen Schülern nähert, es ist sein pädagogisches Verhalten. Er interessiert sich unglaublich stark für Menschen - er hört zu, er versteht schnell, er kann entziffern, was andere sagen wollen. Das ist eine seltene Begabung.

SZ: Kann man damit die Schüler aus ihrer Gleichgültigkeit holen?

Cantet: Die Schule hat meiner Meinung nach zwei Aufgaben. Einerseits muss sie die Grundlagen einer Kultur vermitteln, das Verständnis für das, was uns umgibt: Sprache, Geschichte, Literatur und dergleichen mehr. Szenen dieser Art, also Szenen der Wissensvermittlung, haben wir relativ wenige im Film. Das ist Absicht, obwohl wir uns gelegentlich dachten, wir müssten noch mehr Schulalltag mit hineinnehmen. Aber wichtiger war uns der Austausch zwischen François und seinen Schülern. Denn die zweite Aufgabe der Schule ist es, Bürger zu schaffen. Dazu muss ein Lehrer seinen Schülern vermitteln, warum sie in der Schule sind, warum es wichtig für sie ist, zur Schule zu gehen.

SZ: Erreicht der Film die Jugendlichen, die er porträtiert?

Cantet: Die Schüler, die den Film mit mir gemacht haben, haben ihn natürlich gesehen, und ich glaube, sie sind repräsentativ für ihre Altersgruppe. Zuerst herrschte fünf Minuten Tumult und Heiterkeit, aber dann haben sie gemerkt, dass der Film von ihnen selbst erzählt, dass da etwas Authentisches sichtbar wird. Und am Ende waren sie gefesselt. Auch meine eigenen Kinder haben den Film gesehen. Sie sind 13 und 16 Jahre alt, und sie haben mir gesagt, dass sie sich darin wiedererkennen. Meine Tochter fand sogar, dass das mein bester Film sei. Darauf bin ich sehr stolz. Ich habe von ihrer Welt erzählt, und ich habe mich nicht darüber lustig gemacht. Das ist in Frankreich nicht selbstverständlich, da stellt man Teenager oft eher lächerlich dar. Mein Film ist hart, aber er zeigt auch, wie hart es ist, Teenager zu sein.

© SZ vom 15.1.2009/holz - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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