Kurzkritik:Konsequent

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Christian Gerhahers "Winterreise"

Von Michael Stallknecht, München

Eigentlich ist es unglaublich: Da füllt ein einzelner Sänger an drei Abenden das Nationaltheater mit insgesamt über sechstausend Hörern, und ginge es nach den Kartengesuchen, hätten es auch noch mehr werden können. Dabei macht Christian Gerhaher es seinen Hörern keineswegs leicht, zumal nicht mit der "Winterreise". Denn der Bariton liest Franz Schuberts Liederzyklus nicht als Todesreise, sondern als Bilderbogen, dessen einzelne Lieder auch in anderer Abfolge hintereinanderstehen könnten, wie er im Programmheft ankündigt. Damit will er die "Winterreise" nicht nur einer "eschatologischen Erwartungshaltung" entziehen, die ästhetische Lust noch aus dem schließlichen Tod des lyrischen Ich bezieht, sondern auch die Einzelbilder gezielt zu "Grisaille-Tönen einer illustrierten Liedergalerie" entfärben.

Das eigentlich Erstaunliche daran ist die Konsequenz, mit der Gerhaher ein solches Konzept umzusetzen vermag, die vollständige Bewusstheit im Einsatz der eigenen Mittel. Wenn er im "Lindenbaum" von "Freud' und Leide" singt, dann trennt er beide voneinander auf gerade einmal fünf Noten, ohne dass man deshalb von "Farben" sprechen könnte. Denn Gerhaher durchleuchtet die auch in der Tempowahl betont unterschiedlichen Miniaturen mit der Nüchternheit von Röntgenbildern. So erzählt er keine Geschichte, sondern einen Dauerzustand von Entfremdung, zeigt ein lyrisches Ich, das zu sich selbst so bezuglos ist wie zur Welt und dem deshalb nicht der Ausweg in den Tod bleibt, sondern nur die achselzuckende Weiterreise mit dem im letzten Lied zufällig begegnenden Leiermann.

Möglich wäre das kaum ohne den Pianisten Gerold Huber, der die Genauigkeit der Notenlektüre mit Gerhaher teilt. Was er an Klangkontrolle, Transparenz, Artikulationsvielfalt einbringt, ist schon technisch mirakulös, wird es aber vollends durch die Bildhaftigkeit, mit der der Hörer beispielsweise im Vorspiel zur "Einsamkeit" eine Wolke vor dem inneren Auge am Himmel vorüberziehen sehen kann.

© SZ vom 02.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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