Kurzkritik:Endlos viel PS

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Tom Jones hat die Unterhöschen hinter sich gelassen

Von Claus Lochbihler, München

Auch Pinkelpausen sind ein Statement: Wenn zu "Delilah", dieser Mörderballade von einem Tom-Jones-Schlager, vier Männer auf eine Tollwood-Toilette rennen, müssen sie entweder ganz, ganz dringend. Oder sie können mehr mit dem Tom Jones anfangen, der drei Songs zuvor seine "Sexbomb" gezündet hat und später - als zweite Zugabe - seine Version von "Kiss" in den Himmel schmatzen wird. Während also das Zelt zu "My my my Delilah/Why why why Delilah" schunkelnd ausflippt, sagt plötzlich einer der vier Delilah-Flüchtlinge so bestimmt wie das nur in der Stille einer Männertoilette möglich ist: "Der Mann ist 75!" Niemand sagt was. Aber nie wurde zustimmender gepinkelt.

Seine 75 Jahre sieht man Tom Jones zwar schon ein großes bisschen an - trotz oder auch wegen der zahlreichen Schönheitsoperationen, die dem üppig gebräunten Gesicht etwas Maskenhaftes geben. Mit seinen grauen Locken, dem grauen Bart, den strahlend weißen Zähnen und dem orange-braunen Gesicht sieht Tom Jones wie ein schlanker, junger Methusalem aus. Aber - und darauf kommt es an - man hört ihm die 75 Jahre nicht an. Nicht im Geringsten. Auch heute noch hat Tom Jones eine Stimme wie ein Sportwagen: Keine andere beschleunigt so kraftvoll. Keine andere Stimme hat so endlos viel PS. Kein anderer legt sich rasanter, lauter, schmachtender, erotisierender in die Kurven seiner Songs als Tom Jones.

Während dieses Naturwunder früher mit dem Sänger manchmal etwas durchging - und es auch heute noch gelegentlich tut -, ist der Tom Jones von heute ein viel besserer Interpret als je zuvor. Vor allem in der ersten Hälfte der 90 Konzertminuten, das von seiner späten Hinwendung zu Americana- und Roots-Repertoire geprägt ist. Tom Jones und seine neunköpfige Band können Gospel ("Didn't it Rain") und Country-Heimweh ("Green, Green Grass of Home") genauso wie "Tower of Song" von Leonard Cohen, das Jones mit großer Intensität wie ein Dankgebet zelebriert: "I was born like this, I had no choice/I was born with the gift of a golden voice."

Für die großen Hits haben sich Sänger und Band neue Arrangements einfallen lassen: "Sexbomb" kommt mit der ganz langen Zündschnur eines entschleunigten Intros daher: Über zwei vor sich hin bluesende Gitarren schmachtet Tom Jones seine Sexbomb an - mit so viel echtem Brusthaar in der Stimme, dass es mal wieder völlig wurscht ist, dass dieser tolle Song einen ziemlich bescheuerten Text hat. Dann geht der Song - an diesem Abend mehr Las Vegas-Swing als Dancefloor - so ab wie nur Tom Jones abgehen kann, und die Leute reißt es endlich aus den Sitzen. Damenunterwäsche ist an dem Abend übrigens nur ganz wenig geflogen. Und die hat Tom Jones stoisch ignoriert. Der Mann hat die Unterhöschen hinter sich gelassen. Der Mann ist schließlich 75. Und soll mit 80 gerne wiederkommen.

© SZ vom 08.07.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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