Kunst und Literatur:Im Herzen der Einsamkeit

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Picasso, Renoir, Corinth, Kirchner und Beckmann - eine Ausstellung im Kochler Franz-Marc-Museum macht deutlich, wie sehr sich Maler quer durch die Epochen mit Lesenden beschäftigt haben

Von Sabine Reithmaier

Die Leser und - deutlich in der Überzahl - Leserinnen würdigen den Betrachter keines Blickes. Konzentriert blicken sie in ihre Bücher, entrückt, unerreichbar, abgetaucht in anderen Welten. Stille, intime Momente haben die Maler dieser Bilder festgehalten, Augenblicke, in denen die Menschen ganz bei sich sind, keinen Gedanken daran verschwenden, welche Wirkung sie auf andere haben. Eigentlich würde man sich liebend gerne einfach dazusetzen, lesen und sich in der Ausstellung "Lektüre" so fühlen, wie es Rainer Maria Rilke im "Tagebuch des Malte Laurids Brigge" beschrieben hat: "Ich sitze und lese einen Dichter. Es sind viele Leute im Saal, aber man spürt sie nicht. Sie sind in den Büchern ..."

Der Empfang im zweiten Obergeschoss des Kochler Franz-Marc-Museums ist überwältigend: Picassos "La Lecture" leuchtet dem Besucher aus der Ferne entgegen. Entstanden 1953, kurz vor dem Ende seiner Beziehung mit Françoise Gilot, malte er seine Geliebte als Lesende mit zwei Gesichtern: das eine, kalkig weiß, zeigt sie im Profil, das zweite, eine angeschnittene Frontansicht, wirkt wie ein sanfter blauer Mond. Genial, wie Picasso in dem Doppelantlitz den Zustand des Lesens erfasst hat, das gleichzeitige An- und Abwesendsein.

"Lektüre" nennt sich auch die Ausstellung, mit der das Haus das zehnjährige Bestehen seines Neubaus feiert. Zweifellos handelt es sich um eine Schau, die Direktorin Cathrin Klingsöhr-Leroy, vermutlich selbst eine leidenschaftliche Leserin, sehr am Herzen liegt. Den Anstoß lieferte ihr Marcel Prousts Text "Sur la lecture". In diesem Essay, erstmals 1905 veröffentlicht, erinnert er sich an die Lesetage seiner Kindheit, beschreibt die tiefe Versunkenheit, den Stillstand der Zeit, interpretiert "das Lesen als fruchtbares Wunder einer Kommunikation im Herzen der Einsamkeit". Den Text notierte er, unterbrochen von Kritzelzeichnungen, in einem Schulheft, das Original liegt in einer Vitrine.

Lesen als kreativer Akt also - vielleicht auch die Antwort auf die Frage, warum Maler quer durch die Epochen Lesende dargestellt haben. Die meisten Frauen wirken bei aller Entrücktheit entspannt, so als wäre ihnen der Blick des Beobachters nicht bewusst gewesen. Auguste Renoir "Lesendes Mädchen" (1884) zupft selbstvergessen an ihren roten Haarsträhnen. Edouard Vuillard hat seine Mutter mit Pastellkreiden neben einen Lampenschirm porträtiert, der Lichtschein grenzt sie von der Außenwelt ab. August Macke hält den Moment fest, in dem seine Frau Elisabeth dem Sohn Walter vorliest; der Kleine starrt mindestens genauso gebannt in das Buch wie die Mutter.

Die Zeitungsleser wirken übrigens längst nicht so entrückt. Lovis Corinth lässt seinen lesenden Maler Benno Becker nebenbei Mokka trinken. Adolph Menzels kurzsichtiger Mann hat seine Brille abgenommen und hält sich das Blatt ganz dicht vor die Augen. Seine "Zeitungsleserin" hat sich wohl nur kurz von ihrer Arbeit ablenken lassen und liest stehend. Dagegen sitzt Erich Heckel, 1911 von Ernst Ludwig Kirchner mit Bleistiftstrichen festgehalten, mit Hut und Mantel da; vermutlich wollte er seinen Freund in seinem Dresdner Ladenatelier nur kurz besuchen und kann sich jetzt von irgendeinem Artikel nicht lösen.

Heckel hat häufig Lesende gemalt, besonders gern seine spätere Ehefrau Siddi. 1913 malt er sie ganz kantig, auffallend der Kontrast zwischen dem Orangebraun ihres Kostüms und dem blauen Magazin. Max Beckmann bevorzugt Lesende im Nachthemd. Gabriele Münters "Lesende" sitzt breitbeinig da und studiert einen Brief. Dass Münter über dem Lesen alles vergessen konnte, belegt ein Foto Kandinskys, aufgenommen 1911 im winterlichen Kochel, wo sie lesend und bestimmt mit kalten Füßen im Schnee steht. Rosemarie Trockel hat ihrer Frau mit Buch gleich gar keinen Kopf gezeichnet - das Lesen als innerlicher Vorgang ist nicht darstellbar.

Aber es sind eben nicht nur Bilder von Lesenden, in die man sich vertiefen kann, sondern an den Wänden verleiten auch Texte Ingeborg Bachmanns, Walter Benjamins oder Kurt Tucholskys zum Lesen. Und Rilke natürlich, der schon 1910 das Fazit zur Ausstellung vorwegnahm: "Ach, wie gut es doch ist, unter lesenden Menschen zu sein. Warum sind die nicht immer so?"

Lektüre. Bilder vom Lesen - Vom Lesen der Bilder , Franz-Marc-Museum, Kochel am See, bis 23.September; Die Kunst des Lesens , Freitag,22. Juni, 20 Uhr, Literaturhaus München

© SZ vom 21.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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