Kritik:Sie ist Ophelia

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Hannigan, Nelsons, BR-Symphoniker

Von Egbert Tholl, München

Die Dame ist ein Phänomen - diesbezüglich herrscht in der Fachwelt ein seltenes Einverständnis. Wenn Barbara Hannigan singt, wird der Auftritt zu einem Ereignis. Nicht, weil sie sich dem Virtuosenzirkus hingäbe und lauter Kunststückchen machte. Nein, Hannigan ist eine unfassbar ernste, im Gespräch fast spröde Künstlerin, die ein außerordentliches Gespür für den emotionalen wie intellektuellen Gehalt der von ihr interpretierten Werke hat und alle Fähigkeiten der Expressivität, ihre Erkenntnisse auch umzusetzen. Und sie ist unglaublich freundlich, schön und voller Charme, so dass die Musiker des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks sie gar nicht gehen lassen wollen und am liebsten wohl ihre Pause für Hannigans Anwesenheit opfern würden. Jedenfalls bleiben sie stur sitzen, damit die Sängerin wieder und wieder zum Applaus aufs Podium im Herkulessaal kommt; dabei wird sie stets von Hans Abrahamsen und Paul Griffiths, also von Komponist und Textdichter von "Let Me Tell You" begleitet, was die Musiker kaum beeindruckt - sie wollen Hannigan haben.

Ist ja auch toll, wie sie sich diese Solokantate, eine Shakespeare-getreue Mutmaßung über die Wünsche, Freuden und Ängste der Ophelia, zu eigen macht. Abrahamsen hat "Let Me Tell You" für Hannigan komponiert, hat sich von ihr die Möglichkeiten der Singstimme erklären lassen. Deshalb hat dieses 2013 durch eben Hannigan und dem Dirigenten Andris Nelsons in Berlin uraufgeführte Werk nichts von den manchmal esoterisch wirkenden Expressionismen zeitgenössischer Avantgarde. Obwohl hier keine Sekunde Musik einfach stattfindet, obwohl alles geformt ist, obwohl die Singstimme teils abenteuerliche Sachen machen muss, gewagte Sprünge ebenso wie Zittern, Stammeln, Deklamieren, Flüstern in allerhöchsten Lagen - nie gewinnt man den Eindruck von etwas Artifiziellem. Abrahamsen ist ein konzilianter Komponist, mag Harmonie ebenso wie fahle Orchestereffekte, schätzt aber vor allem die Liebe mit allem Weh, für das er oft hinreißende, mitunter aber auch fast schon in Kultiviertheit erstickende Klänge findet. Hannigan jedoch erfüllt alles mit Leben, herrlich wahr.

Andris Nelsons dirigierte danach noch Dvořáks Sechste, zunächst als toll duftende Imagination eines Sommers auf dem Dorf, bis der Zwiefache des Scherzos losrumpelt und der Schluss ganz schön trampelig wird.

© SZ vom 04.07.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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