Krimi aus Israel:Dunkel, aufgewühlt

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In seinem zweiten Krimi "Die Möglichkeit eines Verbechens" erweist sich der israelische Autor Dror Mishani als würdiger Nachfolger der 2005 verstorbenen Batya Gur.

Von Tim Neshitov

Wer Dror Mishanis vielgefeierten Debütkrimi "Vermisst" nicht gelesen hat, hat nichts verpasst. Nicht weil "Vermisst" langweilig wäre, sondern weil Mishanis zweiter Krimi "Die Möglichkeit eines Verbrechens" den ersten in sich trägt wie eine Boa einen Elefanten im Bauch. Inspektor Avi Avraham ist nicht imstande, den zurückliegenden Fall abzuhaken, er leidet an ihm, wächst an ihm, droht an ihm zu zerbrechen, zu zerplatzen. In beiden Fällen sind Kinder in Gefahr. Es ist sogar zu erwarten, dass Inspektor Avraham, solange er ermittelt - was man Krimiliebhabern auch in Zukunft von Herzen wünscht -, nicht imstande sein wird, die bereits gelösten Fälle hinter sich zu lassen. So einer ist dieser Inspektor Avraham, ein Nachdenklicher.

Im dritten Krimi, der auf Deutsch noch nicht vorliegt, aber in Israel stürmisch gefeiert wird, wird eine Frau ermordet, die man als Leser von "Die Möglichkeit eines Verbrechens" sehr gut kennt. Man hasst sie, man bemitleidet sie, die ganze Gefühlspalette, Dror Mishani meidet Schwarzweiß-Klischees, seine Protagonisten sind wie Mitglieder einer sehr großen Familie. Die Geschichten werden aus mehreren Perspektiven erzählt, die des Inspektors ist also nicht die einzige - und in vielen Passagen nicht einmal die einprägsamste. Die Avraham-Serie begreift der Autor als eine "literarische" Reihe, seine Vorbilder sind Georges Simenon und Marcel Proust.

Dror Mishani: Die Möglichkeit eines Verbrechens: Avi Avraham ermittelt. Aus dem Hebräischen von Markus Lemke. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2015. 336 Seiten, 19,99 Euro. E-Book 15,99 Euro. (Foto: N/A)

Einige Kenner halten Dror Mishani bereits für Israels Krimiautor Nummer 1, für den würdigen, verspäteten Thronfolger der 2005 verstorbenen Batya Gur. Inspektor Avraham ermittelt, anders als Gurs Michael Ochajon, nicht in Jerusalem, sondern in Cholon, einem Vorort von Tel Aviv. Er ist Single und Ende dreißig, raucht viel und melancholisch, trägt einen Namen, der sich mit seinem Nachnamen überschneidet, und ist in diesem zweiten Buch der Reihe unglücklich verliebt - nach dem Glück sucht er aber mit derart konsequenter Geduld, dass man auf jeden Fall mit einem Fahndungserfolg rechnen muss.

Mishani unterrichtet Literatur und macht sich Gedanken über den Zustand der hebräischen Literatur, und zwar nicht nur in Sachen Kriminalromane. Er findet, die hebräische Gegenwartsliteratur solle sich dringend der Welt öffnen, schotte sich jedoch mehr und mehr ab. Mishani lernt gerade Arabisch, weil in Israel aus dem Arabischen so gut wie nichts Lesenswertes mehr übersetzt werde. Sein Großvater sprach noch Arabisch als Muttersprache, in Aleppo, vor dem Zweiten Weltkrieg.

Das sind Ansichten und Absichten eines politisch denkenden Schriftstellers, die er auf internationalen Kongressen und in Interviews äußert. "Die Möglichkeit eines Verbrechens" ist jedoch ein weitgehend unpolitisches Buch. Israel als zerrissenes Land, das sich seit der Ermordung Jitzchak Rabins vor zwanzig Jahren immer weiter von der Möglichkeit eines Friedens entfernt hat, dieses Israel spielt in diesem Krimi keine große Rolle. Israel ist keine mächtige Kulisse, vor der die Verbrechen - es sind derer einige - besonders makaber leuchten oder einen tieferen Sinn ergeben würden. Gelegentlich flackert Gaza auf, etwa als Inspektor Avraham für ein telefonisches Radiointerview angerufen wird. "Nur zwei Minuten nach Beginn des Gesprächs wurde es zugunsten eines Berichts über die gezielte Tötung eines Hamas-Funktionärs in Gaza unterbrochen, sodass Avraham nicht einmal Gelegenheit fand, den Namen der Ermordeten zu nennen. Er blieb in seinem Büro neben dem Telefon sitzen und wartete, weil die zuständige Redakteurin der Sendung versprochen hatte ihn wieder anzurufen, aber das geschah nicht. Und das Leben ging weiter."

Man hat bereits den Fall zusammen mit Avi Avraham gelöst und weiß, wie viel Erfahrung, Herzblut und Glück dazu gehört, solche Fälle zu lösen. Aber das Leben geht ja weiter, das ist Dror Mishanis literarisches Grundprinzip - auch wenn das Leben für einige Mitglieder dieser Familie ziemlich abrupt endet, gibt es immer genug andere, aus deren Perspektive erzählt werden kann. Die Perspektive des Ermittlers Avraham ist die eines Menschen, der routiniert Unbehagen empfindet, weil das Leben wenig Anlässe bietet, Gegenteiliges zu empfinden. Die Geliebte im fernen Brüssel antwortet plötzlich nicht mehr auf Anrufe, die Chefin verfasst einen komischen Bericht über seine Arbeit - hinter seinem Rücken. "Das Meer war dunkel und aufgewühlt, und winzige Lichtpunkte blinkten am Horizont von einem Frachtschiff auf." Mishani-Atmosphäre.

Ein anderer Protagonist dieses wunderbaren Kriminalromans fliegt mit seiner philippinischen Freundin nach Zypern, um dort zu heiraten. Sie lieben sich nicht. Das ist merkwürdig genug, und natürlich wird ihm auf dem kurzen Flug übel, und der Fahrer Agapitos, der sie am Flughafen abholen soll, wartet noch auf weitere Paare, das ist sehr frustrierend. Und nach der Hochzeit streichelt die Braut "langsam seinen weichen Bauch und seine glatten Schenkel, bis sich etwas regte". Und aus dieser Nicht-Liebe wird dann etwas ganz Schreckliches. v

© SZ vom 10.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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