Kraftwerk-Tour:Kühl, mit Gefühl

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Der Tourstart von "Kraftwerk" ist ein Fest für 40-Jährige. Beim retrofuturistischen Sound des Quartetts findet die Baby-Boomer-Generation zu sich selbst.

Von Christian Seidl

Im April jährt sich angeblich die Geburtsstunde des Rock'n'Roll zum 50. Mal, und schon der Umstand, dass ausgerechnet das ZDF aus diesem Anlass eine große Party schmeißt, sagt viel über den Zustand des Jubilars aus. Auf der Liste der Ehrengäste stehen Peter Kraus, die Scorpions und Status Quo - also eben all jene, die dafür verantwortlich sind, dass sich ein großer Teil der Hörerschaft mit der Zeit gelangweilt vom Geschehen abwendete. Man braucht sich nur die Bilanzen der zugehörigen Industrie anschauen, um zu wissen, dass Rock'n'Roll obsolet geworden ist. Man könnte aber auch auf ein Konzert von Kraftwerk gehen. Dann wüsste man obendrein, warum.

Bei ihrem Tourstart im Berliner Tempodrom spielten sich Dinge ab, die einem Albtraum von Bertelsmann Thomas M. Stein entsprungen sein könnten: Auf einer die ganze Bühnen-Frontseite umspannenden Videowand erscheint zum Beispiel ein stilisierter Kleinrechner, auf dem ein Finger im Takt über die Tasten gleitet. Dazu ertönen simple Bleep-Sounds, immer schneller. Auch die Zahlen auf dem Bildschirm beginnen zu tanzen, und Ralf Hütter, Chefideologe des Quartetts, lächelt das erste und einzige Mal, während er singt: "Wenn ich diese Taste drück, ertönt ein kleines Musikstück."

Das Lied "Taschenrechner" ist 20 Jahre alt, der Text preist, was derzeit allenthalben als das Ende der Musikkultur, wie wir sie kannten, beschworen wird: Die Demokratisierung des Schöpfungsprozesses, die Transformation von Klängen in Datenmengen, die digitale Verfügbarkeit von Musik durch weltweite Vernetzung und über immer komfortableres Kleingerät.

Es mag ein Zufall sein, dass die Plakatkampagne für den neuen iPod von Macintosh, der ganze Musikkataloge speichern und wiedergeben kann, ein wenig an die retrofuturistische Kraftwerk-Optik erinnert. Doch wenn sie gewusst hätten, wie wahr einmal wird, wovon sie schon in den frühen achtziger Jahren träumten, hätten sie sich die Melodie von "Taschenrechner" längst als Handyton patentieren lassen. Der Erfinder des nicht unähnlichen Nokia-Tons jedenfalls braucht nicht mehr zu arbeiten.

20 Jahre "Taschenrechner"

Das Konzert ist auf unspektakuläre Art spektakulär. Die großteils zwischen 1974 und 1981 eingespielten Elektro-Sinfonien klingen sehr aktuell. Das kühl-metallene "Trans Europa Express" etwa, das 1977 entstand und ein paar Jahre später von dem New Yorker DJ Afrika Bambaataa als "Planet Rock" recycelt wurde: die Geburtsstunde von House und Hip-Hop. Ohne Kraftwerk wäre die Popmusik heute nicht das, was sie ist.

In der obligatorischen "Wir sind die Roboter"-Inszenierung, schon früher Höhepunkt jedes Auftritts, wenn die Musiker unbemerkt hinter der Bühne verschwinden und mechanische Ebenbilder der Vier die Arbeit übernehmen, kann, wer will, auch Gemeinsamkeiten mit den Choreographien moderner Reißbrett-Bands sehen. Textzeilen wie "Wir funktionieren automatik, jetzt wollen wir tanzen mechanik" könnten auch im großen Benimm-Handbuch für "Deutschland sucht den Superstar" stehen.

Es scheint, als habe sich die Alterslosigkeit ihrer Musik auf die Musiker selbst übertragen. Die Puppen sind dieselben wie bei der letzten Tour von 1991 und gleichen ihren Mustermännern wieder bis aufs Haar, so dass man nie sicher sein kann, wer oder was da jetzt auf der Bühne steht. Ralf Hütter sieht ein bisschen so aus wie Ulrich Tukur und mimt mabusisch den Kommandogeber. Kollege Florian Schneider blickt stoisch ins Nichts, während er mit robotischen Bewegungen seinen Computer bedient.

Baby-Boomer finden sich selbst

Alle vier verharren, im Anzug und mit Krawatte, zwei Stunden lang hinter einer Art elektronischem Altar. Gelegentlich lässt sich einer der Vier zu einem rhythmischen Wippen mit dem kleinen Zeh hinreißen, ansonsten geschieht auf der Bühne: nichts. Dass da oben mit Virtuosität und Leidenschaft Musik entsteht, ist lediglich hörbar. Gefühlsausbrüche, körperliche Ertüchtigung sowie authentischer Schweiß sind diesen Herren so fremd wie nur was.

Als sie anfingen, war derlei Gebaren natürlich eine Provokation. Da kamen gerade die Kinder der Peter-Kraus-Fans ins rebellische Alter. Ein Entwurf, der sich weit jenseits dessen befand, was die Eltern als richtig und wichtig empfanden, kam also gerade recht. Diese Generation prägte die Club-und DJ-Kultur und sowohl die Musiker als auch die Käufer machten die Neunziger zur aufregendsten Dekade der Pop-Geschichte. Heute sind diese Leute 40 Jahre alt und machen noch immer den größten Teil der Musikkundschaft aus - die Kraftwerk-Tournee ist restlos ausverkauft. Die Industrie jedoch hat die Zeichen der Zeit nicht erkannt und biedert sich weiter bei 13-Jährigen an. Kraftwerk muss all das nicht scheren. An diesem Abend findet die Babyboomer-Generation zu sich selbst. Das hier ist die Party der 40-Jährigen.

Am Ende gibt es einen kurzen Schockmoment. Da begibt sich Hütter doch tatsächlich in die Bühnenmitte, verneigt sich und spricht, in klarem und unverfremdetem Deutsch, den Satz: "Vielen Dank und einen schönen Abend". Die Legende lebt, klar. In diesem Augenblick hat das allerdings etwas Verstörendes.

© SZ vom 27.3.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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