Klassik:Mehr als Bach

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Überrascht vom eigenen Erfolg: der Münchner Knabenchor in der Kirche Heilig Kreuz. (Foto: Münchner Knabenchor)

Der erstaunliche Aufstieg des Münchner Knabenchors lässt sich am Freitag auch in der Matthäus-Passion nachvollziehen

Von Michael Stallknecht

Gleich der Eingangschor trifft den Hörer mit voller Wucht: "Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen", doppelchörig. Die Krone aber setzt erst der Knabenchor auf. Mit der charakteristischen Helligkeit kindlicher Stimmen lässt er den Choral "O Lamm Gottes, unschuldig" hindurchtönen wie eine ewige Heilsgewissheit. Wenn Enoch zu Guttenberg an diesem Karfreitag in der Philharmonie Johann Sebastian Bachs "Matthäuspassion" dirigiert, dann wird zum dritten Mal der Münchner Knabenchor diesen Part übernehmen - in der Nachfolge des Tölzer Knabenchors, der die Traditionsveranstaltung bis dahin stets für sich gepachtet hatte.

Der Knall war laut und öffentlich, als beide Chöre sich vor zweieinhalb Jahren trennten. Gerhard Schmidt-Gaden, der Gründer der Tölzer, hatte Ralf Ludewig über Jahre systematisch als Nachfolger aufgebaut. Seit 2009 sei er als künstlerischer Leiter und Geschäftsführer tätig gewesen und habe die damals ökonomisch angeschlagenen Tölzer "finanziell saniert", so Ludewigs Version der Trennung. Nachdem er dieses Ziel erfüllt habe, habe man ihn wieder hinausgedrängt. Von seiner Entlassung habe er nach einer Urlaubwoche durch den Brief eines Anwalts erfahren. Doch aufgeben wollte Ludewig nicht, die jahrelange Arbeit sollte nicht umsonst gewesen sein.

Also gründete er mit zwölf Kindern aus den Reihen der Tölzer einen neuen Chor. Die erste Einladung kam von Guttenberg, der aus Protest gegen Ludewigs Entlassung vom Vorsitz des Tölzer Fördervereins zurückgetreten war. Guttenberg setzte für seine "Matthäuspassion" auf den noch völlig unerfahrenen Münchner Knabenchor, und der bestand den Stresstest mit Bravour. Danach organisierte Ludewig Tag und Nacht mit nur einer Mitarbeiterin, was in Tölz eine Vielzahl von Kräften erledigt. Im Probenraum mussten handwerklich begabte Elternteile erstmal Türen einbauen und Stromkabel verlegen. Nach einem Konzert in Berlin wollte ein begeisterter Veranstalter eine CD des Chors. Ludewig nahm über Nacht eine auf.

Mit dieser Energie hat er seinen in doppeltem Sinne jungen Chor bereits erstaunlich weit gebracht. Für dieses Jahr sind zwei weitere CD-Aufnahmen fest vereinbart, Tourneen nach Spanien und Frankreich stehen an, in München ein Auftritt mit Benjamin Brittens "War Requiem". Erst am Dienstag dieser Woche sind die Jungs von einer Tournee ins ferne China zurückgekehrt. Ludewig schwärmt von dem Empfang, der seinem Chor dort bereitet wurde. In den Städten hingen meterhohe Plakate, die drei Konzerte in Schanghai, Nanjing und Guangzhou fanden vor jeweils zweitausend Hörern statt. Rundfunkanstalten schnitten mit, auch eine Nachfolgeeinladung für das kommende Jahr ist bereits ausgesprochen. Nach einem Konzert, erzählt Ludewig, habe er eines der Kinder weinend hinter der Bühne gefunden. Den Jungen hatte der Erfolg erwischt, er weinte vor Glück. Dass dabei auch der geschickt gewählte Name eine Rolle spielt, gibt Ludewig gern zu. "Jeder Chinese kennt München."

Ludewig ist ein Praktiker. Als Sechsjähriger hat er selbst beim Tölzer Knabenchor zu singen begonnen, ab 2002 war er dort Stimmbildner. Das Ausbildungssystem hat er denn auch aus Tölz übernommen. Über mehrere Leistungsstufen werden die Kinder an den eigentlichen Konzertchor herangeführt, wobei jedes Einzelunterricht von professionellen Stimmbildnern bekommt. Die Fähigkeit zum solistischen Singen galt bis jetzt als das große Alleinstellungsmerkmal der Tölzer. Nun platziert auch Ludewig seine Solisten, vor allem natürlich in Aufführungen von Mozarts "Zauberflöte".

Gerade hat er die drei Knaben für eine Aufführungsserie in Florenz gestellt. Doch allein auf das klassische Repertoire will er nicht setzen. Er singt mit den Kindern auch Songs von Michael Jackson und Elton John, was wohl auch einer der Streitpunkte mit dem traditioneller orientierten Gerhard Schmidt-Gaden beim Tölzer Knabenchor war. "Mit Bach allein kann man heute nicht überleben", sagt Ludewig pragmatisch. "Ich muss darauf eingehen, was der Kunde wünscht." Schließlich will er auch bei seinem neuen Knabenchor keine finanziellen Ruinen hinterlassen. Dabei greifen ihm freilich langsam auch Sponsoren unter die Arme. Die Stadt München zum Beispiel hat verstanden, dass der Chor als lebendes Werbeplakat fungiert, und fördert nun einzelne Projekte.

Der Name dürfte denn auch die Tölzer besonders ärgern, die ebenfalls schon seit Jahrzehnten in München proben. Nachwuchsprobleme haben beide Chöre keine, weil sie im Gegensatz zu vielen anderen Knabenchöre nicht an Internate gebunden sind, die bei Eltern heute eher unbeliebt sind. Inzwischen gehören insgesamt achtzig Kinder dem Münchner Knabenchor an, dazu kommen im Konzertchor die älteren Männerstimmen. Neulinge, versichert Ludewig, seien aber noch immer "herzlich willkommen".

J. S. Bach: Matthäus-Passion, Fr., 14. April, 19 Uhr, Philharmonie

© SZ vom 13.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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