Kiran Nagarkars "Gottes kleiner Krieger":Mister Alias und die Religion des Extremismus

Lesezeit: 6 min

Der Mann, der von einer indischen Fortsetzung von "Fahrenheit 451" träumt: Kiran Nagarkar und sein Roman "Gottes kleiner Krieger"

Alex Rühle

Es ist eines der wichtigsten Bücher dieses Herbstes. Mit solch einem Satz könnte man Kiran Nagarkar wahrscheinlich in die Fluten des Indischen Ozeans treiben, der direkt vor dem weiten Panoramafenster seine Wasser wälzt. Gegen Nagarkars Understatement erinnert Woody Allen an eine fettglänzende Egokugel. Oder drücken wir es so aus: Understatement bedeutet in gewöhnlichen Fällen, dass man sein Licht unter den Scheffel stellt. Nagarkar bläst erst mal die Kerze aus, geht dann mit Scheffel und Kerze in den Keller und versteckt da beides im hintersten Winkel.

Fundamentalismus kann einem schon manchmal auf die Nerven gehen: Auf dem Bogengang der Jama-Masjid-Moschee in Neu Delhi beten indische Muslime. (Foto: Foto: AFP)

Was nicht bedeutet, dass er nicht meinungsstark wäre. Oder wüsste, wie gut seine Bücher sind. Vielleicht ist es eher eine Taktik der Enttäuschungsprävention, wenn Kiran Nagarkar sagt, er habe bei seinem neuen Roman Angst gehabt, "meine Leser zu verlieren, dieser Zia, meine Hauptfigur, geht einem mit seinem Fundamentalismus schließlich dermaßen auf die Nerven - wobei das übrigens eine mathematisch interessante Angst ist, denn ich habe ja keine Leser, wie soll man die verlieren...".

"Nagarkar ist unser Gewissen"

Nun stimmt das nicht, Nagarkars Bücher werden in alle Welt übersetzt und in Bombay reden Schriftsteller, Journalisten, Schauspieler von ihm wie von einem großen Vorbild. Immer wieder heißt es bei Abendessen und Empfängen, oh Nagarkar, Sie müssen "Krishnas Schatten" lesen, das schönste Buch, das die indische Literatur hervorgebracht hat!

Im Reden über ihn schwingt aber immer mehr mit als nur die Liebe zu seinen Büchern, denn sie verehren ihn hier geradezu wie eine Art Freiheitskämpfer. "Er ist unser Gewissen", sagt der Journalist Sreenivasan Jain, der sonst ein ziemlich cooler Slacker ist. Nagarkar hat mit seinen Büchern und Theaterstücken immer wieder die Hindufundamentalisten von der Shiv-Sena-Partei, die staatlichen Zensurbehörden, die Zeitungen und viele mächtige Diskurswerfer gegen sich aufgebracht.

Zwischendurch verließ ihn der Mut, 15 Jahre lang veröffentlichte er nichts, und so ist der ironische Satz über seine inexistenten Leser vielleicht auch fernes Echo jener Zeit, in der er glaubte, der engstirnige Diskurs selbst ernannter Chefpatrioten werde es ihm nie mehr ermöglichen zu schreiben.

Eine Wohnung in Mahalaxmi, im Süden Bombays, der Indische Ozean ist an diesem Morgen so braungrau wie Slumabwässer, der Monsun tröpfelt lustlos gegen die Scheiben. Am Wasser werden drei neue Hochhäuser hochgezogen, daneben flattern zu Zeltplanen umfunktionierte Mülltüten im Wind, überall Autos, vor dem Haus ist permanent Verkehrsinfarkt.

Der hager hochgewachsene Nagarkar sitzt auf dem Sofa, inmitten indischer Kunst - Amphoren mit hinduistischen Mustern, Teppiche mit muslimischen Ornamenten, ein Bild des tanzenden Krishna - schenkt Tee nach und sagt, er verstehe selbst nicht, warum er als Agnostiker in seinen Büchern immer wieder die Religion thematisiere.

"Gottes kleiner Krieger" ist eine Studie über Fanatismus, die sich schon deshalb abhebt von den meisten aktuellen Büchern zum Thema, die um den 11. September 2001, den Islamismus und die pakistanischen Koranschulen kreisen. Nagarkar wollte ein Buch schreiben, das dem Wesen des Fanatismus selbst nachspürt.

Zia dürstet es ein Leben lang nach Reinheit

Um zu zeigen, wie nahe in allen Religionen der selbstlose Idealist dem selbstherrlichen Fanatiker ist und so ersann er sich einen Mann, der die Existenzen wie Masken wechselt, dessen metallen selbstgerechter Dogmatismus aber immer der gleiche bleibt, der Islamist in Cambridge ist und Terrorist in Kaschmir, der als Trappist in eindrucksvoll beschriebener kalifornischer Natureinsamkeit lebt und als spin doctor Kampagnen gegen Abtreibungskliniken einfädelt, an der Börse jongliert und mit Waffen handelt.

Zia also. Zia alias Bruder Lucens alias Tejas. Zia entstammt einer liberalen muslimischen Familie aus Bombay. Nur Tante Zubeida, der der freundlich weltoffene Geist des Vaters und die Vergnügungssucht der Mutter ein Dorn im Auge sind, hat sich in einem schwarz glänzenden Hass verkapselt, den sie als tiefe Gläubigkeit ausgibt. Sie setzt dem kleinen Zia den Floh ins Ohr, er sei ein Vali, ein Auserwählter, der all die vom wahren Glauben Abgefallenen zum Islam zurückführen könne.

Zia dürstet es ein Leben lang nach Reinheit. Nach Klarheit. Und nach körperlichem Schmerz. Als Muslim peitscht er sich den Rücken blutig, als Trappist erleidet er die Stigmata. Und wenn er glaubt zu wissen, was die eine Wahrheit ist, geht er dafür über Leichen. Nur das Leben spielt dabei selten mit. Erst misslingt ihm ein Attentat auf Salman Rushdie, dann muss er von einer Tante erfahren, dass sie ihn, als er als Baby sterbenskrank war, taufen ließ - wie in allen Romanen Nagarkars kippen Wahrheiten, Charaktere, Geschichten immer neu in andere Richtungen, als sei das Leben ein buntscheckiger Zauberwürfel, für den es keine saubere Lösung gibt.

Sieben Jahre hat Nagarkar an diesem Buch geschrieben, sieben Jahre, in denen ihm Zia mit seinem rigiden Besserwissen oft dermaßen auf die Nerven ging, dass er ihn sich monatelang vom Hals halten musste. "Das Schlimmste war, zu erkennen, dass Teile Zias auch in mir stecken. Auf meine Art bin ich ja auch fanatisch. Ich bin ein geradezu dogmatischer Liberaler. Romain Gary sagte mal: ,Nur eines ist schlimmer als Intoleranz: Intoleranz gegenüber Intoleranz.'"

"Das Schlimmste war, zu erkennen, dass Teile Zias auch in mir stecken" - Kiran Nagarkar liest an diesem Monatg im Münchner Literaturhaus. (Foto: Foto: Volker Derluth, A1 Verlag)

Vom verfolgten Satiriker zum Romancier

Nagarkar wusste sehr genau, worüber er in "Gottes kleiner Krieger" schreibt, er konnte die Fundamentalisten verschiedener Couleur sein Leben lang aus nächster Nähe studieren. Sein erstes Buch schrieb er auf Marathi, der Sprache des Bundesstaates Maharashtra (und Bombays). "Seven Sixes are Forty-Three" wurde Mitte der siebziger Jahre mit seinem witzigen Nihilismus, seiner elliptischen Erzählweise und den drastischen Sexszenen als Meilenstein der indischen Literatur gefeiert.

Verkauft hat es sich nicht: "Ich habe im ersten Jahr 121 Rupies daran verdient, im zweiten 74." Dann sagt er, er würde gerne mal eine Fortsetzung von Ray Bradburys "Fahrenheit 451" schreiben, dieser rabenschwarzen Dystopie einer Massengesellschaft, die durch Unterhaltung in tumber Abhängigkeit gehalten wird, und in der es verboten ist, Bücher zu lesen.

"Dieses Verbot bräuchte es bei uns in Indien heute nicht mehr, Bradburys Feuerwehr wäre arbeitslos, die Leute lesen ohnehin nichts mehr." Wer nach solchen Worten glaubt, in Nagarkar einen strengen Vertreter der reinen Literatur zu finden, täuscht sich. Er ist ein geradezu verzweifelter Kino-Aficionado. Verzweifelt insofern, als er die meisten indischen Marsala-Filme schlicht schrecklich findet, aber nicht umhin kann, sie alle anzuschauen.

Vielleicht kommen auch daher die überbordende Phantasie, die griffig opulenten Beschreibungen und das hohe Tempo in all seinen Büchern. Andererseits gibt es da auch andere Spuren für sein burleskes Talent, Rabelais etwa, den er sehr verehrt. Wie auch immer, während sein erstes Prosawerk fulminant floppte, wurde sein erstes Theaterstück, das während des Ausnahmezustands, Mitte der Siebziger, entstand, wegen angeblicher Häresie verboten. Überflüssig zu sagen, dass keiner der Zensoren es je gelesen hatte.

Nagarkar resignierte und verstummte. 15 Jahre lang. Er arbeitete für eine Werbeagentur und lebte in großer Armut. Erst 1991 begann er wieder zu schreiben, auf Englisch. Es gab da ein Fragment, eine Geschichte über zwei Jungen, die in einem Chawl, einem dieser riesigen, von den Briten gebauten Wohnkomplexen aufwachsen. Der eine ist Hindu, der andere Christ. "Ravan und Eddie" wurde ein fulminantes Buch über das postkoloniale Bombay. Und eine beißende Satire auf die Fanatiker der hindu-fundamentalistischen Partei Shiv Sena.

All das ging unter in der Empörung über Nagarkars linguistischen Vaterlandsverrat. Keiner rezensierte "Ravan und Eddie", alle empörten sich nur darüber, dass Nagarkar nicht mehr in seiner reinen, authentischen Muttersprache, sondern in der hybriden Sprache der einstigen Kolonialherren schreibe. Aber was ist in Indien schon die Muttersprache? Und was ist rein? Die indische Kultur erinnert an geologische Sedimentquerschnitte, Schicht über Schicht, 3000 Jahre, 21 Amtssprachen, und geht man bei Nagarkar aus der Haustür, kann man in einer Minute zwei hinduistische Tempel, die Haji-Ali-Moschee und eine Kirche erreichen.

Tausend Arten von Licht

Nagarkar, der aus einer hinduistischen Familie stammt, bezeichnet sich selbst als Agnostiker. Es geht ihm in "Gottes kleiner Krieger" aber nicht um einen Angriff gegen die Religion. Zias sanfter Vater, der Prior des Trappistenklosters und vor allem sein Bruder Amanat, sie alle haben etwas gemein mit Zia: Auch sie sind gläubige Idealisten.

Aber ihr Idealismus ist voller Mitgefühl, Größe und Zweifel. Amanat ist Architekt und Schriftsteller (er schreibt ein Buch über den indischen Mystiker Kabir, diesen Weber und Wanderprediger, der die Gleichheit aller Menschen propagierte und sich um die Vermittlung zwischen Hinduismus und Islam bemühte) und er verfolgt Zia mit seinem geradezu hartnäckigen Humanismus, indem er ihm Briefe schickt.

"Zuweilen haben mich diese Briefe aus Zias besserwisserischer Wüstenei gerettet", sagt Nagarkar. In einem seiner Briefe schreibt Amanat: "Du magst Deine Religion oder den sonstigen -Ismus, dem du früher anhingst, gewechselt haben, aber Du bleibst Deiner Natur treu. Arthur Koestler, John Dos Passos und die anderen aus der ,Gott-der-keiner-war'-Brigade, ganz zu schweigen von Mussolini, waren Marxisten und KP-Mitglieder, die zu den fanatischsten Konservativen mutierten. Auch Du bist, wie sie, abtrünnig geworden und bist dabei, wie sie, Deiner Religion treu geblieben: Der Religion des Extremismus."

So ist "Gottes kleiner Krieger" nebenbei auch ein großer Briefroman, ein Buch über körperliche Krankheit und Leiden, über die enervierende Popularitätsmaschine Salman Rushdie, über das universitäre England und den Einfluss fragwürdiger Gurus auf die indischen Präsidenten. Es steckt vielleicht zu viel in "Gottes kleiner Krieger", ähnlich wie in einem Bollywood-Film. Aber so ist das eben in Bombay, Nagarkars Heimatstadt, über die es im Buch heißt: "Nirgendwo sonst im Universum gibt es solch einen Mischmasch von Akzenten, Sprachen, Kleidungsstilen; so viele Gerüche und Düfte, so viele Arten von Licht, solch eine hohe Menschendichte pro Kubikzentimeter Luft und Raum. Und das bereits an normalen Wochentagen."

KIRAN NAGARKAR: Gottes kleiner Krieger. Roman. Aus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini. A1 Verlag, München 2006. 707 S., 28,80 Euro

© SZ vom 18. September 2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: