Kino:Ein Echo im Herbst

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Gruppenegozentrik: Sönke Wortmann zielt in seinem Fußballfilm "Deutschland. Ein Sommermärchen" auf die Magie des Augenblicks in der deutschen Mannschaft. Fackeln und Ferienlager statt Fans und Finale. Der Film wirkt wie ein herbstliches Echo auf eine fast schon vergessene Euphorie.

H.G. Pflaum

Was wäre, wenn eines Tages, in ferner Zukunft, Historiker oder Archäologen herausfinden wollten, was damals, bei der legendären Fußball-Weltmeisterschaft im Sommer 2006 in Deutschland geschah? Wenn sie wissen möchten, was am Ende der dritte Platz für ein Team bedeutet hat, das im Vorfeld eher geringen Anlass zur Hoffnung gegeben hatte?

Auf den Augenblick gezielt - David Odonkor feiert den dritten Platz in Stuttgart. (Foto: Foto: ddp)

Wenn sie sich gar für die Frage interessieren würden, ob die sportlichen Ereignisse mit all ihren Begleiterscheinungen wenigstens vorübergehend die Nation veränderten - oder den Blick anderer Länder auf die Gastgeber? Würden sie aus diesem Film Sönke Wortmann erfahren, was in den Stadien, in den Städten und im ganzen Land ablief?

Die Magie des Fußballs, nach dem "Wunder von Bern" nun das "Sommermärchen". Von der WM 1954 blieb nur wenig Archivmaterial erhalten. Als Sönke Wortmann von der Wiedergeburt einer Nation durch den Erfolg von Sepp Herbergers Team erzählte, ging dies nur mit den Mitteln der Fiktion, der Rekonstruktion und der Imitation. Vielleicht, so hat sicher mancher Fan erwartet, würde der Filmemacher nun bei der neuen WM all das dokumentarisch festhalten, was damals, ein halbes Jahrhundert früher, nicht gedreht wurde oder in den Jahren verloren ging.

Genau dies wollte Sönke Wortmann nicht. Er konzentriert sich entschlossen auf das deutsche Team und blendet alles andere weitgehend aus. Archäologen in der Zukunft würden hier nicht einmal erfahren, wer gegen wen am Ende das Finale gewann. Der Regisseur zielt auf den Augenblick, nicht auf die Historie. Schon jetzt, da die Bundesliga, die Champions League, die EM-Qualifikation das Interesse auf sich ziehen, wirkt das "Sommermärchen" wie ein herbstliches Echo auf eine fast schon vergessene Euphorie.

Wir sehen das Tagebuch eines Teams, intimer und weit weniger flüchtig, als es im Fernsehen, wofür Wortmanns Arbeit zunächst geplant war, die Regel ist. Der Blick aber bleibt verengt, es zählen nur die Mannschaft und ihre vielen Helfer, vom Trainer- und Betreuerstab bis zum Busfahrer.

Die Fans treten nur dann in Erscheinung, wenn sie von ihren Stars wahrgenommen werden. Man könnte dem Regisseur durchaus vorwerfen, er habe sich und seine Arbeit einer Art deutscher Gruppen-Egozentrik untergeordnet. Über den Tellerrand des DFB wollte Wortmann sehr bewusst nicht hinausschauen.

Er verharrt bei den Trainings- und Spielstätten, beobachtet das Team im jeweiligen Quartier; in Berlin hat man sogar im Park des Nobelhotels luxuriöse Freizeitzelte aufgebaut, alles vom feinsten, am Abend entzünden sie elf Fackeln: wie junge Ölprinzen im hermetisch abgeriegelten Ferienlager. Zu verführerisch könnte für Wortmann die Chance gewesen sein, fast immer und überall drehen zu dürfen - auch dort, wo den TV-Teams in aller Regel der Zugang verwehrt wird: in der Kabine, vor dem Spiel, in der Halbzeit und hinterher.

Eins auf die Fresse

"Deutschland. Ein Sommermärchen" beginnt mit einer Sequenz, die vermutlich die schwierigste des gesamten Films war, denn die deutsche Mannschaft hatte gerade das Halbfinale gegen Italien verloren; der Traum vom Finale war ausgeträumt. Todtraurig, total erschöpft und wortlos, niedergeschlagen bis zur physischen Reglosigkeit sitzen die Spieler in der Kabine. Die Szene wirkt wie inszeniert. Die Niederlage wird zur temporären Katastrophe, zum Akt eines Dramas vom Untergang. "Ich hätte es gar nicht besser erfinden können", sagt Sönke Wortmann über den vielwöchigen Dreh.

Später wird Jürgen Klinsmann sein Team trösten, auch die Bundeskanzlerin und der Bundespräsident tauchen in der Kabine auf, über die der Bundestrainer die Oberhoheit genießt. Mit seinen Ansprachen und Anfeuerungen überrascht Klinsmann durchaus - auch durch die Wortwahl. Nach dem Sieg gegen Costa Rica preist er den "ersten Dreier" und jubelt: "Den nimmt uns keiner mehr weg. Geil! Geil!" Weit vornüber gebeugt, als müsste er sich in suggestive Augenhöhe zu den sitzenden Kickern begeben, fordert er sie auf, dem Gegner "eins auf die Fresse zu geben", ihn "wegzuhauen". Wortmanns Film zeigt manchmal fast ernüchternd die Grenzen des deutschen WM-Slogans "Zu Gast bei Freunden".

Wir wissen, dass Klinsmanns Methode Erfolg hatte - aber er wirkt hier oft wie ein eifernder Sekten-Prediger, gelegentlich auch wie die Karikatur amerikanischer Motivations-Agitatoren. Seine Parolen klingen angelernt, und manchmal schauen die Adressaten seiner Sprüche eher verwundert drein. In diesen Passagen geht der Film weit hinaus über alles, was wir im Fernsehen während der WM über den Trainer erfahren konnten.

Sönke Wortmann hat Glück gehabt. Weil das deutsche Team entgegen vieler Befürchtungen die Vorrunde überstanden hat und bis zum Schluss im Turnier verblieb, hat der Regisseur viel Zeit für Beobachtungen am Rande, die mitunter durchaus komisch sind: Klose, der sich der Prozedur einer Hairstylistin unterzieht und dabei nicht sehr glücklich wirkt, Neuville, der Probleme hat, seine Urinprobe zu liefern, Metzelder, der sich etwas verängstigt "Kapillarblut" aus dem Ohrläppchen zapfen lässt, Lehmann, der der Kanzlerin eine politisch gemeinte Frage stellt, oder Schweinsteiger und Podolski, die die alte, von erfolglosen Jahren verdrängte Tradition des Komikerduos Littbarski und Häßler wieder aufleben lassen.

Solche spontan festgehaltenen Momente entschärfen wohltuend das Klischee vom Bierernst der "deutschen Tugenden", von denen Klinsmann mit seinen Kampfparolen nicht gänzlich loskommt.

Der Rest besteht mehr oder minder aus Pflichtübungen, bei denen Wortmann nie lange verharren will: Die Spieler beim Training, auf dem Rasen oder im Kraftraum, meist so schnell geschnitten, dass der Eindruck einer Schinderei nicht aufkommen kann.

Löw und Bierhoff und einige aus der Mannschaft liefern ihre Statements ab; der Torwartzwist und sein halbwegs versöhnliches Ende bleiben nicht unerwähnt; Odonkor weint nach der Niederlage noch einmal so ergreifend wie damals im Fernsehen; die Ausschnitte aus den Spielen konzentrieren sich auf kurze, dem Effekt dienende Momente. Von dem internationalen Fest, an dem wir alle und auch andere als die Deutschen teilgenommen haben, werden die Archäologen der Zukunft in diesem Film nichts finden.

DEUTSCHLAND. EIN SOMMERMÄRCHEN, D 2006 - Regie: Sönke Wortmann. Kamera: S. Wortmann, Frank Griebe. Schnitt: Melania Singer, Christian von Lüpke. Musik: Marcel Barsotti. Mit der deutschen Nationalelf, den Trainern und Betreuern. Kinowelt, 108 Min.

(SZ vom 4.10.2006)

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