Jugendkriminalität:Der böse Geist

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Scheinbar sinnlose Jugendgewalt hat einen Nutzen: Sie dient dem bösen Geist von einem glorreichen Ich.

Thomas Steinfeld

Die Verteidiger sagen, die beiden Angeklagten im Münchner Schlägerprozess seien gar nicht bei sich gewesen, als sie über den ehemaligen Schuldirektor herfielen. Oder genauer: es seien eigentlich gar nicht diese beiden jungen Männer gewesen, sondern vier, sechs oder noch mehr, die da traten und schlugen.

Das Bild einer Überwachungskamera zeigt, wie die zwei Münchner U-Bahn-Schläger einen Rentner brutal zusammenschlagen und treten. Auf Grund der Bilder und eines Zeugen konnten die Täter ermittelt werden. (Foto: Foto: dpa)

Sie wollen die Angeklagten, deren Kontur auf dem Video so deutlich zu erkennen ist, auflösen, in einen Psychotiker, einen Drogenabhängigen, einen Trinker. Am Ende dieser Argumentation wird eine Figur in die andere übergleiten, immer wieder, bis kein Mensch mehr greifbar sein wird, den man für die Tat zur Verantwortung ziehen könnte. Das Opfer hingegen besteht auf der Identität der Angeklagten. Wenn er deren Entschuldigungen zurückweist, sagt er: Ihr sollt dieselben bleiben, genau dieselben Schläger, die ihr an jenem Abend im Dezember wart.

Undefinierbarer Zustand der Verantwortungslosigkeit

Was aber sagen die Angeklagten selbst? "Ich kann nicht verstehen, warum ich so etwas getan habe", sagt der eine. "Scheiße, was hab' ich gemacht", sagt der andere.

Das klingt nach Ausrede, nach Flucht in einen undefinierbaren Zustand der Verantwortungslosigkeit.

Das Gegenstück zu dieser Verantwortungslosigkeit scheinen all die pädagogischen Theorien zu sein, die ihren Gegenstand im selben Augenblick entschuldigen, in dem sie ihn für unzurechnungsfähig erklären.

Dass einer nichts dafür kann, was er tat, aus Gründen seiner Herkunft, seiner Bildung, seines getrübten Bewusstseins, ist der erste Gedanke einer sozialpsychologisch inspirierten Strafverfolgung, die an die Möglichkeit der Besserung glaubt, der persönlichen wie der gesellschaftlichen.

Widersinnige Verknüpfung

Ihr Irrtum besteht darin, strafen und bessern zugleich zu wollen - und womöglich auch noch Abschreckung zu verlangen, wobei diese Verknüpfung besonders widersinnig ist, weil die Abschreckung vom Täter genau die Identität verlangt, die eine sozialpsychologisch inspirierte Strafverfolgung bestreitet.

Was aber wäre, wenn die beiden Angeklagten ihre Lage völlig angemessen beschrieben? Wenn in ihnen tatsächlich ein böser Geist von der Art hauste, den ein Satz wie "Ich kann nicht verstehen, warum ich so etwas getan habe" unterstellt?

Vor Gericht wird gegenwärtig darum gestritten, ob und in welchem Maße das Opfer die Täter provoziert habe.

Lesen Sie auf der zweiten Seite, warum es für die Graumsamkeit scheinbar sinnloser Gewalttaten kein Maß gibt.

Sind Worte wie "Scheiß-Kanaken", Sätze wie "Ihr seid das Volk, das hier Stress macht und rausgehört" gefallen oder nicht? Solche Fragen aber müssen die Tat verfehlen, ganz unabhängig davon, dass sie nicht zuverlässig zu beantworten sind.

Denn die Verbrechen, für die sich seit einiger Zeit der Euphemismus "Jugendgewalt" eingebürgert hat, zeichnen sich dadurch aus, dass es in ihnen um wenig, ja scheinbar um nichts geht.

Das Opfer muss nichts tun, damit die Gewalt über ihn kommt wie der Blitz aus sonnigem Himmel. Umgekehrt ist es: Je zufälliger ihn die Schläge treffen, desto deutlicher offenbart sich der böse Geist.

Schicksalhaft

Plötzlich, berichtet das Opfer vor Gericht, habe er hinter sich Schritte gehört, "richtig sportlich, richtig schnell. Und jetzt begann mein Schicksal". Das ist (auch in der Formulierung vom "Schicksal") nach allem zu urteilen, was man bisher über diese Tat weiß, eine völlig angemessene Beschreibung dieser Erfahrung.

Der böse Geist ist indessen von dieser Welt. Er sucht sich sein Opfer, er fahndet nach der Provokation. Und dann kann sich das Opfer das Portemonnaie aus der Tasche reißen, es kann bitten und betteln, wie es will. Auf das, was mit ihm gemacht wird, hat es keinen Einfluss. Denn was mit ihm geschieht, verdankt sich allein dem Gutdünken und der Willkür des Täters - weshalb es auch für die Grausamkeit solcher Verbrechen kein Maß gibt.

Sie sind, um das Wort Jan Philipp Reemtsmas (aus seinem Buch "Vertrauen und Gewalt", Hamburg 2008) zu gebrauchen, "autotelisch" in dem Maße, wie ihr Ziel der Genuss einer absoluten Überlegenheit ist. Hier will einer die bedingungslose Macht über einen anderen genießen, um seiner selbst, um seines Selbstwusstseins willen. Der böse Geist ist der Wahn von einem glorreichen Ich.

"Man kann nicht einfach weglaufen"

Deswegen gibt es nach einem solchen Verbrechen auch keine Rückkehr zu friedlichen Verhältnissen. Täter und Opfer können einander nicht die Hände reichen. Das wissen in diesem Fall Täter und Opfer. "Man kann nicht einfach weglaufen", sagt einer der Angeklagten in München, auf das Prinzip einer Schlägerei angesprochen. Und das heißt: Er will, er muss der Täter bleiben, auch für das Bewusstsein seiner selbst.

In den Augen des Gerichts wird sein Verbrechen daher vermutlich schwerer wiegen, als es jeder Raub, jede Körperverletzung einer dritten Sache wegen sein könnte.

Kein Wahn ist in dieser Gesellschaft so verbreitet wie der Wahn vom absolut glorreichen Ich mitsamt dem dazugehörigen, unersättlichen Bedürfnis nach Anerkennung.

Der jugendliche Schläger macht mit diesem Wahn ernst, auf dem kleinen Terrain, das ihm für diesen Zweck zur Verfügung steht: dem der physischen Überlegenheit. Der böse Geist - er weiß wirklich nicht, was er tut, und doch ist er böse.

© SZ vom 26.06.2008/pak - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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