Jubiläum:Tradition ist eine Ressource der Freiheit

Lesezeit: 3 min

Lehrer aus Passion: Albert von Schirnding bei einem Vortrag. (Foto: Hartmut Pöstges)

Dem Dichter, Gelehrten und passionierten Lehrer Albert von Schirnding zum achtzigsten Geburtstag.

Von Thomas Steinfeld

Im bayerischen Oberland, nicht weit von Wolfratshausen, steht auf einem Hügel ein kleines, erkennbar aus einer Burg hervorgegangenes Schloss. Wenn es historisch von besonderer Bedeutung sein sollte, dann weniger, weil dieses Schloss ein besonders großartiger Bau wäre, sondern weil es seit dem 16. Jahrhundert so gut wie unverändert geblieben ist. Das hat praktisch zur Folge, dass sein Besitzer, der Schriftsteller, Dichter, Gelehrte und ehemalige Münchner Gymnasiallehrer Albert von Schirnding, in der kalten Jahreszeit jeden Tag eine Schubkarre mit Brennholz herbeiholen muss.

Man kann diesen Bau allerdings auch allegorisch betrachten: Dann wird er zum Zeichen einer Tradition, in die man eher hineinrückt, als dass man sie ergriffe. Voraussetzung ist allerdings, dass man weiß, worin diese Tradition besteht. Albert von Schirnding wird an diesem Donnerstag achtzig Jahre alt. Menschen, die ihn schon lange kennen, seine früheren Schüler aus dem Ludwigsgymnasium in München zum Beispiel, sagen, er habe sich seit mehreren Jahrzehnten nicht mehr verändert. Auch diesen Gedanken kann man allegorisch lesen: Dann bedeutet er, dass Albert von Schirnding selbst zu einer Tradition wurde, in die man eher hineintritt, als dass man sie ergriffe. Und das ist ein Gedanke, der an Schönheit gewinnt, wenn man weiß, wie Albert von Schirnding Tradition versteht: nämlich als Ressource der Freiheit. Griechisch, erklärte der Altphilologe in einem Buch, das den passenden Titel "Menschwerdung" (2005) trägt, lerne man, um sich von der Gefolgschaft gegenüber dem Geist der jeweiligen Zeit zu befreien.

In diesen Tagen ist ein neues Buch Albert von Schirndings erschienen. Es heißt "Jugend, gestern" ( Verlag C. H. Beck, 176 Seiten, 16,95 Euro) und stellt eine Sammlung von Erinnerungsskizzen und Aphorismen dar, die mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs einsetzen und sich bis in die späten Fünfzigerjahre erstrecken. Biografisch gesprochen sind das die Jahre zwischen Kindheit und Eintritt in den Beruf. Selbstverständlich erzählt dieses Buch von einer ästhetischen und intellektuellen Sozialisation - und nebenbei von den nicht so ungewöhnlichen Nöten eines jungen Mannes, der in eine nicht mehr so gewöhnliche bayerische Welt aus Adel, Klosterschulen und Honoratioren hineinwächst, oder von den peinlichen Situationen, die entstehen können, wenn man in einer Zeit, in der die deutsche Kultur entschlossen den Anschluss an die Internationale der Modernität sucht, noch in Reimen dichtet.

Doch zugleich ist da etwas anderes: In Wilflingen lebt Ernst Jünger, bei dem Albert von Schirnding gelegentlich als Sekretär arbeitet, Horst Bienek erklärt dem jungen Lyriker, in welch idyllische Fallen er beim Dichten trat, der alte Friedrich Sieburg, dass er wieder Student sein will. Carl Orff entpuppt sich im Gespräch als wenig inspirierter Mensch, Walter Jens als ein "unersättliches Vakuum, das die halbverdaute Geisteskost schnellstmöglich von sich gibt". Und dann sind da die treuen, fernen Begleiter: Thomas Mann, der Dichter einer "Ratlosigkeit, aus der, gegen die der Wunderbau des Werkes errichtet war" - und die Musik, Mozart, Beethoven, Schubert. Gewiss, man erfährt auf diese Weise vieles über das intellektuelle Leben in der Bundesrepublik der Fünfziger, manches wird mit Ehrfurcht berichtet, anderes mit leisem Spott.

Sein neues Buch zeigt, wie offen einen enge Verhältnisse einschließen können

Aber ein anderer Eindruck ist stärker: Wie fest, wie eng gefügt, wie verbindlich diese Verhältnisse sind, und mit welcher Offenheit sie doch einen jungen Mann einschließen, der noch nichts zu bieten hat außer einem einnehmenden Wesen. Albert von Schirnding muss diese Offenheit bewahrt und seinen Schülern weitergegeben haben. Der Schriftsteller Rainald Goetz, einer dieser Schüler aus dem Ludwigsgymnasium, spricht im Nachwort zu "Jugend, gestern" von einem "Ton der Leichtigkeit", in dem Albert von Schirnding von seinen Dingen spreche: dem Ton "einer Diskretion, dem Ernst nicht allzu distanzlos zu nahe treten zu wollen (. . .) Das gibt den Leser frei." Die Bemerkung trifft den Ton und den Mann, der ihn hervorbringt. Sie lassen ihrem Gegenüber die Würde, indem alles Entscheidende gesagt, nichts aber aufgedrängt wird. Vermutlich war Albert von Schirnding auch deswegen ein so erfolgreicher Lehrer.

Wollte man ernsthaft versuchen, das lange und mit zunehmendem Alter stets erstaunlich junge Leben Albert von Schirndings zu erzählen, so wäre von vielen Gedichten zu reden, auch wenn sich der Autor heute zumindest über die frühen lustig macht. Es müsste von den Erzählungen geredet werden, von den Essays und von vier Jahrzehnten Literaturkritik, die hauptsächlich in dieser Zeitung veröffentlicht wurde. Das alles gibt es und wäre einer eigenen Würdigung wert, aber das neue Buch rückt es in einen Zusammenhang: Er besteht in der Entscheidung für die Schule, zum Hineinrücken in eine Tradition, das selber zu einer Tradition wird, in die dann wieder andere hineinrücken.

Denn selbstverständlich wollte der junge Mann ein Schriftsteller werden. Doch als er es dann beinahe war und als er bei einer öffentlichen Veranstaltung in München aus seinen jüngst veröffentlichten Gedichten las, da rezitierte der Lyriker die Zeile: "Funkelnd ging mein Schmerz im Himmel auf." Und aus dem Publik tönte seufzend ein leises, aber vernehmliches "Schön". Dies, so erzählt Albert von Schirnding in anekdotischer Zuspitzung, müsse der Augenblick gewesen sein, in dem endgültig die Entscheidung für ein Leben als Lehrer fiel. Es muss eine Entscheidung für die größere Freiheit gewesen sein.

© SZ vom 09.04.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: