Jubiläum:Im Dämmerlicht der Erinnerung

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"Damit du dich im Viertel nicht verirrst" heißt der neue Roman Patrick Modianos. Nun feiert der Literaturnobelpreisträger seinen siebzigsten Geburtstag.

Von Joseph Hanimann

Wenn es eine Sache gibt, in der Patrick Modiano wohl unerreicht bleibt, dann ist es die Kunst, aus dem Halbdunkel der unscharfen Erinnerung zu schreiben. Das Dämmern, wenn die Dinge wie im Traum sich überlagern, Personen zwischen mehreren Identitäten flimmern, verschiedene Orte ineinander übergehen, aus Dokumenten Realitäten aufsteigen, es zeichnet fast alle seiner Romane aus. In "Vorraum der Kindheit" (1989), "Dora Bruder" (1998) oder "Gräser der Nacht" (2012) war es besonders eindrücklich. Selten tasteten wir jedoch bei der Lektüre durch einen so dichten Nebel der Zeitsprünge wie in seinem neuen Buch, das in Frankreich gerade erschienen war, als Modiano im Herbst 2014 den Literaturnobelpreis erhielt. Bei jedem der inzwischen gut zwei Dutzend Romane des Autors, der an diesem Donnerstag seinen 70. Geburtstag feiert, glaubte man, danach könne nichts mehr kommen. Und doch geht es immer weiter.

Die besondere Atmosphäre dieses jüngsten Buchs mit dem Titel "Damit du dich im Viertel nicht verirrst" stellt sich mit den ersten Sätzen ein. Auch sie kommt aus der präzisen Unschärfe der auftretenden Personen, Dinge, Orte und Namen, aus der wie der Geist aus der Flasche immerfort Vergangenes entweicht. Es beginnt mit dem Klingeln des Telefons im hinteren Zimmer der Wohnung, wo der Schriftsteller Jean Daragane in der fast sommerlichen Hitze eines Septembernachmittags eingenickt ist. Ein Unbekannter will ihm sein Adressbuch zurückgeben, das dieser vor Kurzem verloren hat. Man verabredet sich in einem Café, obwohl Daragane sich gegen das Treffen sträubt und sich damit Mut macht, die Sache würde schnell vorbei und vergessen sein. Dann aber fragt ihn der Fremde nach einem Namen, Guy Torstel, der ihm beim Blättern im Adressbuch aufgefallen war - und schon sind wir auf der abschüssigen Bahn der Halberinnerungen, Vermutungen, Kombinationen, Rekonstruktionen, die in Modianos Welt der Zeitüberlappung zwischen Faszination und Unheimlichkeit des Vergangenen führt.

Patrick Modiano in seiner Pariser Wohnung. (Foto: laif)

Dieser Name Guy Torstel, der sowohl in Daraganes Adressbuch als auch in einem seiner Romane auftaucht, sagt dem Schriftsteller zunächst gar nichts mehr. Wie ein Senkblei zieht er ihn, der mit den Verstrickungen zurückliegender Lebensepochen nichts mehr zu tun haben will und am liebsten wie ein Schwimmer an der Wasseroberfläche bleiben möchte, in die Tiefen seiner eigenen Vergangenheit hinab. Denn der Fremde insistiert, er habe über jenen Guy Torstel recherchiert und dieser scheine mit einem lang zurückliegenden Mordfall in Zusammenhang zu stehen. Abermals setzt sich also Modianos Erinnerungskarussell aus Pariser Straßen und Plätzen, Eckcafés, Läden, Fassaden, Hinterhäusern und Wohnungen zwischen Nachkriegszeit und heute in Bewegung. Der Name Guy Torstel ruft die Erinnerung an ein Haus in der Pariser Vorstadt wach, in dem Daragane einen Teil seiner Kindheit verbrachte, und in den ihm ausgehändigten Polizeiakten fällt dem Schriftsteller ein weiterer Name auf: Annie Astrand, die Frau, die sich als Ersatzmutter in jenem Haus um ihn gekümmert hat.

Wenn Marcel Proust für die Literatur die Geheimnisse der "mémoire involontaire", des etwa an der besonderen Form eines Treppenabsatzes spontan sich entzündenden Erinnerungsfunkens lüftete, dann ist Patrick Modiano der Autor, der das halb-willentliche Erinnern erforscht. Gerade in diesem neuen Buch sieht und hört man das Gedächtnis bei der Arbeit surren, ticken und ächzen. Der Ortsname "Le Tremblay" löst bei Daragane zunächst nur eine vage Erinnerung aus - "er sagte sich den Namen innerlich vor und wurde ihn nicht mehr los. Le Tremblay. Eine Pferderennbahn in der südöstlichen Vorstadt . . . ein Sonntag im Herbst . . ."

In dem Maße, wie die Erinnerung sich aufhellt, wird sie von einem Gefühl des Unheimlichen überschattet, nicht nur wegen der unaufgeklärten Morde oder Verbrechen, die in Modianos Vergangenheitsnebel immer irgendwie im Spiel sind. Die sanfte Erpressung, die der Schriftsteller Daragane hier zunächst befürchtete, kommt letztlich aus seinem eigenen Gedächtnis, dessen Bann er sich nicht mehr entziehen kann. Er war damals als Kind unbeteiligte Nebenfigur eines Mordes im Milieu des Pariser Nachtlebens.

Nicht aber die Aufklärung der Ereignisse ist bei Modiano entscheidend - über Hergang, Motiv und Täter erfährt man bei ihm meistens wenig. Auch in diesem Buch können die Gesprächspartner dem herumfragenden Daragane keine andere Auskunft geben als die, seine Ersatzmutter Annie Astrand habe wohl ein paar Jahre im Knast gesessen. Modiano ist insofern ein Krimiautor ganz eigener Art. Der kriminelle Akt als solcher ist Nebensache, wesentlich ist allein das Unheimliche, Undurchschaubare, Ungewisse, das von ihm ausgeht und die Vergangenheit seltsam überzieht.

Patrick Modiano: Damit du dich im Viertel nicht verirrst. Roman. Aus dem Französischen von Elisabeth Edl. Carl Hanser Verlag, München 2015. 160 Seiten, 18,90 Euro. E-Book 14,99 Euro. (Foto: N/A)

Vielen Autoren von Elias Canetti bis Martin Walser dient Kindheitserinnerung als fester Anhaltspunkt für die "gerettete Zunge" oder einen "springenden Brunnen". Bei Modiano quillt aus ihr immer nur neue Ungewissheit. Beim Lesen der Polizeiakte über Guy Torstel, in der er sich selber als Kind auftauchen sieht, ist für Daragane der Baum draußen vor dem Fenster mit den sanft bewegten Blättern im Wind das einzige, was ihm ein Gefühl von Geborgenheit gibt. Es ist die Geborgenheit, die ihm Annie Astrand damals im Haus der Pariser Vorstadt nicht zu geben vermochte - so wunderbar dieses Frauenporträt voll umsorgender Aufmerksamkeit, Eleganz, Zurückhaltung und Gegenwart in diesem Roman auch sein mag. Die Szene der misslungenen Flucht zusammen mit dieser Frau an der französisch-italienischen Grenze zeigt auf ergreifende Weise die Verlorenheit des jungen Helden zwischen Einbildung und Wirklichkeit.

Patrick Modiano, der mit einer Zaubertinte, die nur im Dämmerlicht sichtbar wird, zu schreiben scheint, ist ein Meister der Zwischentöne. Von Roman zu Roman schließt er das Panorama eines Werks, das mit zunehmender Fülle immer tiefere Lücken in den Horizont reißt. Und seine bewährte Übersetzerin Elisabeth Edl trifft auch in diesem Buch die einfache Sprache, die auf Klärung zielt und doch stets Geheimnisse schafft.

© SZ vom 30.07.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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