Jelinek reagiert auf Amstetten:Guter Ruf, böser Schrei

Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek ist die Feuerwehr, wenn alle anderen noch die Hände über dem Kopf zusammenschlagen: Auf Ihrer Homepage reagiert sie auf den Fall Amstetten, als hätte sie darauf gewartet.

Burkhard Müller

Irgendwie ist es schon auffällig, dass solche Dinge immer in Österreich passieren. Natascha Kampusch. Oder der Knabenmissbrauch im Priesterseminar St. Pölten. Den heiligen Pölt, der dem zusah, mag man sich gar nicht vorstellen. Er sieht wahrscheinlich aus, wie von Helnwein gemalt. Und nun Amstetten.

Wenn die Öffentlichkeit schon bei Natascha Kampusch aus allen Wolken fiel, so weiß sie nun endgültig nicht mehr, wohin sie fallen soll. Darauf, auf eine so gründlich, zäh, umfassend durchgearbeitete Niedertracht war niemand gefasst.

Außer einer. Elfriede Jelinek verliert keine Zeit damit, Töne des Entsetzens auszustoßen. Das haben inzwischen schon andere hinlänglich getan. Sie beginnt ihren Text "Im Verlassenen", abrufbar auf ihrer Homepage, damit, dass sie das Besondere und das Allgemeine des Falls ins rechte Verhältnis bringt.

Wie von ungefähr

"Österreich ist eine kleine Welt, in der die große ihre Probe hält." Das ist zwar als Prosa gesetzt, tänzelt aber wie von ungefähr in Richtung des gereimten Epigramms.

Der Fall Amstetten muss ihr vom ersten Augenblick nicht nur als möglich, sondern geradezu als notwendig erschienen sein. Das einzig Überraschende liegt für sie vermutlich darin, dass Österreich, dieser amorphe, selbst und gerade vom Hass so schwer zu fassende Koloss, ihr auf einmal seinen gültigen Inbegriff darbietet.

Österreich ist was Spezielles. Während die Autoren, die am Boden anderer deutschsprachiger Regionen hängen, am Rheinland oder Thüringen zum Beispiel, dies für gewöhnlich mit den zarten Fäserchen der Liebe tun, senkt sich in den österreichischen Grund bevorzugt die Pfahlwurzel des Hasses.

Sie genügt, um für ein ganzes Werk und Leben Kraft zu saugen, man denke an Karl Kraus oder Thomas Bernhard. Elfriede Jelinek hat dafür den Nobelpreis erhalten. Es muss also doch was Einleuchtendes an ihrer These sein, dass Österreich sich als Probebühne fürs große Haus empfiehlt.

Ermüdend

Jelinek hat viele, die sie in den letzten Jahren hörten oder lasen, durch die Gleichform ihrer Beschwerde ermüdet. Das mag zum Teil ungerecht gewesen sein, denn wenn das Übel sich nicht ändert, warum sollte es die Beschwerde tun? Es war Jelineks Art, der Welt, ihrer Welt, die Treue zu halten. Und doch liegt im Ermüdenden ein literarisches Problem.

Nun aber ergibt sich am zwar typischen, aber doch herausragenden Anlass die Gelegenheit zu zeigen, dass der fehlende Biss ihrer Texte, den man konstatiert hat, am Brei lag, mit dem sie es zu tun hatte, und nicht an ihren Zähnen. Jetzt hat sie ihren Brocken; und da erweisen sich ihre Zähne auf einmal als scharf.

Lesen Sie auf der zweiten Seite, warum Elfriede Jelineks literarische Tricks nun funktionieren

Guter Ruf, böser Schrei

"Die Politiker fürchten jetzt, da alle gerettet sind, die sich noch retten ließen, Rufschädigung für Österreich, das wäre furchtbar. Schon hört man die Rufe nicht mehr, die aus dem Keller hallten, weil man sie selbstverständlich gar nicht hören konnte, es gab keine Ritzen oder Spalten, die groß genug für Schreie gewesen wären, wenn sie versucht hätten sich hinauszudrängen. Es gab nur kleine Lüftungsschlitze. Mit Schlitzen, auch in menschlichen Körpern, vor allem weiblichen, kennt der Vater sich aus, er hat sie ja gemacht. Er hat alles gemacht, weil er alles machen konnte. Gott sei Dank. Nur nicht schreien! Kein Schrei drängt sich hier vor, auch kein Geburtsschrei einer Gebärenden. Nach so vielen Kindern ist man das Gebären vielleicht schon ein wenig gewöhnt. Nur eins ist kaputtgegangen und eben: entsorgt worden im Heizofen. Wir dürfen keinesfalls unseren Ruf schädigen, und ist der Schaden einmal angerichtet, darf dieses Gericht nicht gegessen werden."

Die große Gefahr der Elfriede Jelinek lag von jeher im Kalauer. Er hatte einmal begonnen als ein Mittel, das die Empörung ökonomisierte. Jedes literarische Werk braucht die Regelmäßigkeit seiner Atemzüge, um lange Strecken durchzustehen.

Der Doppelsinn eines einzigen Wortes

Mit fortgesetztem Schnauben ist das nicht zu erreichen. Also beschränkte sich Jelinek darauf, den Affekt, ganz sparsam, in den Doppelsinn eines einzigen Wortes zu verlegen, um unvermutet B hervorspringen zu lassen, wenn gerade noch A das Thema war. Aber nachdem man dieser Weiche eine Zeitlang beim Schalten zugesehen hat, wandelt sich das Unvermutete in das Erwartbare, und der Trick zieht nicht mehr.

Hier aber zieht er plötzlich wieder, und zwar weil er eine echte Aufgabe bekommen hat. Das Bestürzende an den Entdeckungen von Amstetten lag darin, dass sich alles über so furchtbar lange Zeiträume erstreckt hat.

Man ist es gewohnt, sich Schrecknisse dieser Art mehr oder weniger auch als Schrecksekunde zu denken; die schiere festgefügte Dauer dieses Horrors, seine Perpetuierung in Beton und geflieste Badezimmer, überfordert das Vorstellungsvermögen.

Nicht unbedingt Ausdruck des Schocks

Wie klänge der Schrei, der nicht sofort wieder verstummte, sondern vierundzwanzig Jahre lang gellt? Dies begreift Jelinek als das gestalterische Problem, das sich dem Willen zur angemessenen Reaktion stellt. Und sie erfasst das Janushafte an der Frage, wie so etwas möglich war.

Man muss diese Frage nämlich nicht unbedingt als Ausdruck des Schocks werten, man kann sie auch im Sinn eines technischen Interesses verstehen: Na, man braucht erst mal eine schwere Betontür ... Während die einen vor Entsetzen gelähmt sind, nutzen die anderen diese scheinbare Ruhe schon wieder, um Normalität zu signalisieren, welche doch völlig aus den Fugen ist.

Lesen Sie auf der dritten Seite, weshalb der Einzelfall Amstetten eine allgemeine Tendenz offenbart.

Guter Ruf, böser Schrei

Darum ist die Rede vom "Ruf" Österreichs, wenn es um Dinge wie Amstetten geht, eine solche Perfidie. Es ist dieselbe Art von Rede, die das Verbrennen toter Babies als "Entsorgen" benennt und sich damit den logistischen Gesichtspunkt, die Sorge des Täters, zu eigen macht.

Ein Ruf ist etwas, das aus der Kehle dringt, aber eben auch der gute oder schlechte, den man hat. Plötzlich kommen sich die beiden Bedeutungen, der Schrei und die Reputation, ganz nahe.

Generalisieren erlaubt

Auf den Ruf bedacht sein, heißt den Schrei ignorieren. Darin eben liegt die allgemeine Tendenz, die der krasse Einzelfall offenbart. "Man derf nicht generalisieren", sagt der Österreicher gern, und nur weil er es sagt, darf man es, denn er sagt es immer. Dies macht Jelinek sehr fühlbar, ohne dass sich, wozu der Impuls stark sein muss, der Zorn überschlüge und den Boden unter den Füßen verliert.

Und ähnlich setzt Jelinek das Wortspiel ein, um an den "Schlitzen" die Identität von leiblicher Naturtatsache und gewollter väterlicher Verfügung hervorzutreiben.

Ob das Zweierlei eines angerichteten Schadens und einer angerichteten, nun auch zu essenden Speise denselben Fundus an Gedanken und Anschauung mobilisiert, darf dann bereits bezweifelt werden, hier läuft Jelineks Schreiben möglicherweise schon wieder auf Autopilot.

Das "SOS-Kinderdorf" gegen den Einzelfall

Aber sie macht etwas aus den Vokabeln, die hier anfallen, aus Vater und Keller und Beton vor allem, nicht zuletzt aus dem "SOS-Kinderdorf", das der österreichische Bundeskanzler als global wirksame Errungenschaft seines Landes gegen den Einzelfall von Amstetten in die Waagschale warf. Man muss es nur im rechten Licht betrachten, das SOS-Kinderdorf, nämlich im Kunstlicht der 1,70 m hohen Kellerräume von Amstetten.

Was kann, was soll man zu Amstetten sagen? Man braucht schon einen Ton, der trägt. Den hat Elfriede Jelinek. Er ist, wie eine Berufsfeuerwehr, wohlgeübt, und wenn plötzlich die Katastrophe ausbricht, weiß die Feuerwehr im Unterschied zu den übrigen Passanten, die bloß die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, genau, was sie zu tun hat.

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