Jazzkonzert:Jeder Aufritt ein Ringen mit sich selbst

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Keith Jarrett in der Philharmonie: Musikalischer Höhenflug endet mit Publikumsbeschimpfung

Von Ralf Dombrowski, München

Nach dem ersten Stück der zweiten Hälfte gönnt sich Keith Jarrett eine Unterbrechung und tritt ans Mikrofon, um zu erklären, dass manche Konzerte eigentlich schon fertig seien und es umso schwieriger wäre, den kreativen Prozess dann wieder in Gang zu bringen. Ein paar weitere Ausführungen erklären, dass er sich nicht wiederholen wolle und es eben ziemlich anspruchsvoll sei, sich jedesmal neu zu erfinden. Er würde niemandem raten, es zu versuchen. Er kenne eh niemanden, der das könne. Dann setzt er sich wieder ans Klavier, meint lakonisch: "Blues is always helpful" und spielt ihn, locker, in den Variationen chromatisch fließend, in der Haltung hymnisch. Es wird der Auftakt für den zweiten Anlauf, der als Energiezentrum die erste Konzerthälfte in der Philharmonie noch übertrifft.

Keith Jarrett braucht die Reibung, denn er ist jemand, der seit Jahrzehnten seinen persönlichen Kampf mit dem Instrument austrägt. Ein Flügel ist in seinen Möglichkeiten beschränkt. Mechanik, Wohltemperiertheit, die grundsätzliche Klangerscheinung bieten ein beachtliches, aber begrenztes Spektrum des Ausdrucks, mit denen man sich als Pianist auseinandersetzen muss. Jarrett geht einen traditionellen Weg, spart sich Präparationen, den Griff in die Innereien der Saiten oder elektronische Erweiterungen des Sounds. Er ist Purist, der das Instrument in seiner klassischen Form behandelt und die Vielfalt aus eigenen gestalterischen Kompetenzen heraus entwickelt.

Während des Abends in der Philharmonie wählt er mal die Abstraktion, mal die strukturelle Dekonstruktion, Kontraste wie eine flächig erscheinende Beschleunigung der Töne und die Rücknahme der Geschwindigkeit zugunsten konzentrierter Rubato-Themen. Er spielt mit Auflösungen, fügt Harmonien sich widersprechend an- und ineinander, bis sich das Ohr den fortwährenden Überraschungen fügt, lässt Disharmonisches als Farbe das lyrisch Anschmiegsame konterkarieren, bietet Kurzes, Langes, Hingetupftes, Brandendes, Choralhaftes, Gravitätisches, vermeintlich Schlichtes und offensichtlich Hochkomplexes. Mal grunzt und stampft er zu rhythmischen Passagen, dann wieder spürt man sein Bedürfnis nach gemeinsamer Stille der Tausend im Saal, damit sich die Details intuitiver Klangformung auratisch entwickeln können. Alles steht zur Diskussion, sogar der Ablauf des Konzertes an sich, wenn er die Bühne kurz verlässt, um das Ritual der Zugabe zu unterlaufen, und darauf eine seiner intensivsten Inventionen folgen lässt.

Am Ende noch drei kurze Variationen über Bekanntes, unter anderem ein hinreißend intimes "Over The Rainbow", und als Ausleitung des Abends die längst überfällige Publikumsbeschimpfung, weil doch noch jemand sein Handy gezückt hat. Keith Jarrett, der Genius der Gegensätze, entlässt seine Hörer nach Höhenflügen mit Kraftausdrücken in die Nacht. Und dem Gefühl, etwas rätselhaft Großes miterlebt zu haben.

© SZ vom 18.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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