30 Jahre "taz":Kein Blatt vor dem Mund

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Keine Zeitung lag je so heftig mit ihrer Leserschaft im Zwist wie die "taz". Und keine hat jemals derart die alltägliche Drohung mit dem Scheitern zum Prinzip ihres Überlebens gemacht.

Volker Breidecker

Es war einmal in einer anderen, scheinbar unschuldigeren Epoche: Im ummauerten Biotop von Berlin-West strickte ein wackeres Häuflein parteiunabhängiger linker Intellektueller und politischer Aktivisten an dem Projekt einer linksalternativen Tageszeitung. Dreißig Jahre sind vergangen, seitdem das Projekt mit dem Entschluss zur Vorbereitung einer Nullnummer in die Inkubationsphase überging. Das war in den Tagen und Wochen des "Deutschen Herbstes", als das Land in einem unerklärten Ausnahmezustand lag und man sich berechtigte Sorgen auch um die Pressefreiheit machen musste.

In Deutschlands beliebtestem Layout erinnerte die "taz" am 24. Juni 2002 an die "Bild"-Zeitung des Axel-Springer-Verlags. (Foto: Foto: AP)

Bis zum Erscheinen jener Nullnummer im September 1978 sollte allerdings noch ein weiteres Jahr vergehen, in dem das Projekt und alles, was daranhing - publizistisch wie ökonomisch, politisch wie inhaltlich, persönlich wie gemeinschaftlich -, erst einmal gründlich ausdiskutiert wurde.

Denn so war es üblich in Berlins Westhälfte, wo sogar die Zeit, als habe sie jemand angehalten, nie so recht vergehen wollte. Auch deshalb trägt Jörg Magenaus anschaulich geschilderte, mit vielen hübschen Anekdoten unterfütterte Biographie der taz den sinnigen Untertitel "Eine Zeitung als Lebensform". Eine Zeitung also ähnlich einer großen WG, in der man sich eine ganze Weile einrichten kann, und einer solchen durchaus auch geschichts- wie wesensverwandt.

Nichts ist zuweilen dauerhafter als die Ewigkeit eines Tags, für den man eine Zeitung produziert. Wohl keiner der an der Gründung der taz Beteiligten hätte sich ein längeres Überleben des Blatts auch nur träumen lassen. Doch nach dreißig Jahren, in denen kaum ein Jahr verging, ohne dass die taz nicht regelmäßig kurz vor dem Aus geständen hätte, gibt es sie immer noch: Anders aber als Kapitän Ahab zeichnete sie sich nicht durch 30-jährige Treue zum Walfang respektive zur geneigten Leserschaft aus, sondern überlebte wegen ihrer notorischen Untreue gegenüber der eigenen Klientel, die noch dazu regelmäßig zur Sicherung des wirtschaftlichen Fundaments um gesteigerte Abonnentenziffern erpresst wurde. Keine Zeitung lag je so heftig mit Teilen ihrer Leserschaft im Zwist, keine auch hat jemals so wie die taz die alltägliche Drohung mit dem Scheitern zum Prinzip ihres Überlebens gemacht.

Keine andere Zeitung könnte sich jemals so wie die taz voller Stolz rühmen, ein höchst problematisches Verhältnis zum eigenen Milieu, zum politisch-kulturellen Umfeld, aus dem sie selbst erst hervorgegangen war, zu unterhalten: "Die taz hat alle verraten, und das ist gut so", ließ eine Selbsterklärung aus dem Jahr 1984 verlauten. Als Unikat in der deutschen Presselandschaft hat sich die taz die historiographische Aufmerksamkeit, die ihr mit Magenaus Buch zuteil wird, also redlich verdient.

Mentale Geographie

Und dies nicht zuletzt deshalb, weil das Blatt stets bereit war, der nach Dorf- und Stammesstrukturen organisierten alternativen linken Szene, von der sie doch getragen wurde und deren Mitglieder ihrem Gemeindeorgan in alltäglicher Hassliebe verbunden waren, zuweilen auch die kalte Schulter zu zeigen und grob über den Mund zu fahren. Genau darin erfassten die Macherinnen und Macher (also die "MacherInnen") der taz, die natürlich auch untereinander im andauerndem Hader lagen, mit sicherem seismographischen Gespür alle mentalen, kulturellen und politischen Veränderungen in den kleinen wie größeren Bewusstseinslandschaften der Republik, und häufig genug trat die taz selbst als deren Vehikel auf den Plan.

Da sich in der dreißigjährigen Geschichte der taz bestimmte Strukturen und gewisse Grundprobleme im wesentlichen gleich geblieben sind oder sich unter wechselnden Vorzeichen wiederholt haben, konnte Magenaus Buch auf eine lineare, der äußeren Chronologie folgende Darstellung glücklicherweise verzichten. Als ein zeitweise intimer Kenner des Innenlebens der taz - er war für zwei Jahre dort Kulturredakteur -, konnte er sich des weiter reichenden Gedächtnisses seiner ehemaligen Kollegen und von deren Vorgängern wie Nachfolgern sowie reicher dokumentarischer Hinterlassenschaften bedienen.

So entwickelt der Autor eine plastische Reihe historischer Längsschnitte, die sich jeweils zum kleinen Panorama ausdehnen: Ausgehend von wechselnden Schlüsseldaten, die zunächst nur dem bloßen Tag und seinem gedruckten Ergebnis verpflichtet waren, ist eine klare und auch amüsante Geschichtsschreibung entstanden, die mitsamt den neuralgischen Zonen, kritischen oder dramatischen Höhen und Tiefen ihres Objekts auch eine ganze Kultur- und Bewusstseinsgeschichte der linksalternativen Bewegung im Westen Deutschland, mehr aber noch im Westen Berlins, durchmisst. Dabei wird auch nur allzu deutlich, dass und wie diese politische und mentale Geographie auch noch lange über die Zäsur des magischen Jahres 1989 hinaus anhielt.

Ein Blatt ist ein Blatt

So erfährt der Leser aus Magenaus Buch noch einmal alles Wichtige und auch vieles bloß Anekdotische, das gleichwohl zum unverbrüchlichen Kernbestand aller Westberliner oder auch nur zur taz-eigenen Folklore gehörte und weiterhin gehört, das um so heftiger aber einst das Blut der Kombattanten ins Wallen brachte: Über die Bedeutung von Binnen-Is und Setzerbemerkungen in den täglichen Zeitungstexten, über Rubriken wie "Wiese" und "Lokalprärie", über Frauenquoten, Frauenseiten und PorNo-Debatten, über Waffensammlungen für den Bürgerkrieg in El Salvador, über die mannigfachen Auslöser von Streiks innerhalb der Redaktion, über Besetzungen und Verwüstungen der Redaktionsräume durch aufgebrachte Lesergruppen, über Sprache und Jargon, über Tabus, Tabubrüche sowie deren notorische Protagonisten, die sich Gernot Gailer nannten oder Wiglaf Droste hießen.

Bleibt das schwierige Kapitel, eine plausible Erklärung dafür zu finden, wie es der taz als einer doch recht provinziellen Pflanze, die auch nur im künstlich unterhaltenen Westberliner Gewächshaus gedeihen konnte - passend dazu sah sich der Publizist Erich Kuby bei einem Besuch in den Räumen der Redaktion einmal einer "Voliere voller Vögel" gegenüber -, dennoch gelang, sich über die Jahre nach 1989 hinüberzuretten, sich dabei sogar zu konsolidieren und auch den einhergehenden Niedergang der westdeutschen linken Bewegung intellektuell halbwegs unbeschädigt zu überleben: Magenau meistert diese Aufgabe (oder entledigt er sich ihr? ) durch eine klug eingefädelte Konstruktion, die seiner Darstellung allerdings gar zu durchgängig und auffällig unterlegt ist, um letztlich überzeugen zu können: Er bedient er sich des Schlagworts von der "Neuen Bürgerlichkeit", das vor ein paar Jahren durch die Feuilletons geisterte und damals eher von neoliberal-konservativen Vordenkern in Anspruch genommen wurde.

Magenau zufolge nämlich war die taz von Anbeginn, im beständigen Widerspruch zu ihrer eigenen antibürgerlichen Rhetorik, das zentrale Vehikel einer zunehmenden Verbürgerlichung der linksalternativen Milieus. Wenn er dafür aber die soziale Herkunft der Blattmacher veranschlagt, dann müsste er konsequenterweise auch die RAF zum Bürgerverein erklären. Wenn Magenau seine zugehörige Argumentation andererseits an gewissen Eigengesetzlichkeiten des Mediums Zeitung festmacht - die bürgerliche Öffentlichkeit als Ort ihrer historischen Herkunft und ihrer idealen Adresse, die unvermeidlichen Professionalisierungs- und Hierarchisierungstendenzen innerhalb einer arbeitsfähigen Redaktion -, so verfährt er im Grunde tautologisch.

Denn am Ende bleibt ein Blatt, wie sehr es sich auch bürgerlich geriert oder unbürgerlich geniert, immer noch ein Blatt. Und die taz, so wie sie in dieser grundsätzlich gelungenen und lesenswerten Darstellung geschildert wird, hat die von Magenau vorgenommene Etikettierung mit dem Zauberwort vermeintlicher "alternativer Bürgerlichkeit" auch gar nicht nötig. Auf dem Weg vom einstigen Bewegungs- und Gemeindeblatt in eine fortdauernd unabhängige und auch ökonomisch halbwegs gesicherte Zukunft hatte die taz vor Jahren das Genossenschaftsmodell für sich entdeckt. Magenau zitiert dazu einen der Initiatoren dieses Modells, der es nämlich "eine Kirche" nennt, und sagt dazu selbst: "Was könnte dauerhafter sein!" Na bitte, da haben wir es doch, was wir schon lange ahnten.

JÖRG MAGENAU: Die taz. Eine Zeitung als Lebensform. Carl Hanser Verlag, München 2007. 280 Seiten, 21,50 Euro.

© SZ vom 5.9.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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