20 Jahre Privatfernsehen:Die Erfindung der gestrippten Länderpunkte

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Geburtstag bei Sat 1 und RTL: Kleider fielen zu Boden, Gäste brüllten im Studio, die Nachrichten menschelten - so wurde also das Fernsehen bunter, manchmal blöder, insgesamt seichter und oft schräger.

TITUS ARNU, HANS HOFF

Am Anfang war ein "Urknall". So nannte man das damals, vor 20 Jahren, in der pfälzischen Provinz von Ludwigshafen, als Geschäftsführer Jürgen Doetz in einem Kellerstudio sagte: "Meine sehr verehrten Damen und Herren, in diesem Moment sind Sie Zeuge des Starts des ersten privaten Fernsehveranstalters in der Bundesrepublik Deutschland." Programm für Kabel und Satellit (PKS) nannte sich, ein wenig sperrig, die Innovation, aus der dann bald Sat 1 wurde. Am 1. Januar 1984 begrüßte der neue Winzling einige hundert Zuschauer im Ludwigshafener Kabelpilotprojekt mit Dvoràk-Musik: Aus der neuen Welt.

Den kennt man doch, auch wenn man ihn schon fast vergessen hätte: Moderator Hugo Egon Balder, hier links neben Hella von Sinnen, gehört zu den Taufpaten des Privatfernsehens und wird gleichzeitig als einer der Totengräber des guten Geschmacks in die Geschichte eingehen. (Foto: Foto: dpa)

Einen Tag später, am 2. Januar 1984, holte um 17.27 Uhr der mit einem Chirurgenkittel verunstaltete Moderator Rainer Holbe vor laufender Kamera einen Fernseher, auf dem das Senderlogo RTL plus prangte, ans Licht der Welt. Etwas später folgten Nachrichten mit dem Trio Hans Meiser, Geert Müller-Gerbes und Björn Hergen Schimpf. Sie sendeten aus umgebauten Garagen in Luxemburg und über eine Frequenz, die in eher menschenleere Gegenden funkte und anfangs lediglich 200 000 Haushalte erreichte. Später wurde daraus RTL, Deutschlands Fernsehmarktführer für viele Jahre.

Alles war putzig und gemütlich damals, nur die Geldgeber hatten Angst, wann die vielen Millionen, die sie in dieses Abenteuer investieren mussten, sich wohl rentieren würden. Wie schnell würde es dauern, bis den öffentlich-rechtlichen Sendern von ARD und ZDF die Marktanteile und damit die Werbeeinnahmen abgeluchst sein könnten? Und was würden die Zuschauer nach all den Jahren mit Köpcke, Löwenthal, Merseburger, Thoelke, Kulenkampff, Valérien, Heck und Vivi Bach wohl goutieren?

Es wurde bunter, manchmal blöder. Es wurde informeller, sicher industrieller. Es wurde seichter, oft schräger.

Schon im März des Startjahres gab es die erste Formel 1-Übertragung: RTL-Chef Helmut Thoma war überzeugt, dass Motorsport im Autoland Deutschland ein Erfolgsprodukt sei. Leisten konnte man sich lediglich einen Reporter am Telefon, der nicht immer zu hören war, weil er am Rande der Strecke stand und oft von den Rennautos übertönt wurde. Dazu stellte man geliehene Bilder eines belgischen Senders. Irgendwann aber schaltete diese TV-Station frühzeitig auf ein Pferderennen um, wozu auf RTL noch der Formel 1-Fachkommentar zu hören war: Alles eine Frage der Pferdestärke.

RTL hatte früh Aufreger im Programm. "Das Verhältnis zwischen dem verfügbaren Geld und der Größe der Provokation war gigantisch", urteilt der NRW-Medienwächter Norbert Schneider. Thoma ließ Karl Dall seine Gäste anraunzen und Erika Berger in Eine Chance für die Liebe Tipps für erotische Leibesübungen geben, während Ulrich Meyer schon früh einen Heißen Stuhl bereitete und später dann bei Sat 1 Einspruch! brüllte. Menschen, die sich anschrieen, waren damit nicht mehr dem Internationalen Frühschoppen vorbehalten. RTL plus holte Spielshows wie Der Preis ist heiß, Tennis und Bundesliga-Fußball ins Programm. Doch all das sollte ein Nichts sein gegen Tutti Frutti - eine Ausziehschau, die Thoma in Mailand gekauft hatte. In Italien trugen die Mädchen noch Blumennamen, in Deutschland wurden sie Früchtchen. Moderator Hugo Egon Balder tat genau das, was er heute wieder erfolgreich in seiner Sat 1-Show Genial daneben macht: Er stellt Fragen, die keiner kapiert und sorgt dafür, dass sich die Kandidaten entblößen. Was inzwischen nur noch mental passiert, geschah 1990 physisch.

Im Zusammenspiel mit dem billigen Sex der Lederhosenfilme brachte es RTL kurzzeitig auf eine neue Definition für das Senderkürzel: Rammeln, Töten, Lallen. Das mochte man nicht auf sich sitzen lassen und empfahl sich 1992 mit der Traumhochzeit wieder für die ganze Familie. Auch hatte man nun Geld, um bessere Filme und Serien zu zeigen, etwa Columbo, während die Rivalen von Sat 1 ihre an die ZDF-Kunst angelehnten Dauerwerke Bergdoktor, Kommissar Rex oder Der Bulle von Bad Tölz zeigten.

Um die dem R und T unterlegten Bedeutungen indes nicht gänzlich aus dem Sichtfeld zu verlieren, installierte Thoma 1992 Explosiv, ein Magazin, das bis heute Haut und Blut auf dem vorabendlichen Boulevard präsentiert. Im selben Jahr startet die Billigserie Gute Zeiten, schlechte Zeiten, immer noch ein profitabler Zusammenschnitt aus der Welt der Teenager. Gleichzeitig führte Hans Meiser den Daily Talk ein und bat Thomas Gottschalk zur ersten Late Show. Zwei Jahre später startete das Nachtjournal. Und RTL machte Boxen hoffähig und Peter Kloeppel zum amerikanisch-jungen Gesicht der Nachrichten.

Und Sat 1? Hier hießen die Hauptnachrichten um 18.30 Uhr zunächst APF blick (später blick) und gingen in ein Quiz über. Armin Halle ließ es menscheln. Gegen das öffentlich-rechtliche Verlesen von Nachrichten setzte man eine lange "News Show" mit "Human Interest"-Beiträgen. Später kümmerte sich Heinz Klaus Mertes um die nie florierende Angelegenheit und ließ sich Zur Sache Kanzler einfallen, eine regelmäßig gesendete Kohl-Audienz. Das war der Tiefpunkt des Infotainments, aber man hatte ja noch einmal pro Woche Schreinemakers live mit einer Moderatorin, die drei Stunden Sendezeit mit Themen wie Sex, Schicksalsschläge und Verbrechen totquatschen konnte. Und man hatte die ran-Truppe, die Fußball flott machte.

Auch bewährte sich die tägliche Talkshow als öffentliche Therapiesitzung. Das war für die Sender billig. Hans Meiser (RTL) machte den Anfang, es folgten Bärbel Schäfer und Kerner (Sat 1) und Arabella (Pro Sieben), ehe Gerichtsshows dem bizarren Geschehen Struktur gaben. Als weitere Spielart entwickelten sich Bekenntnisshows wie Verzeih mir!.

Zu den Verdiensten des deutschen Privat-TV gehört auch, dass sich jungen Leuten mit Viva neue Job-Chancen boten, etwa als VJ (Wietschäi) oder VJane (Wietschäin). Zu den Qualifikationen gehörten bunte Haare, Dauergrinsen und Grundalbernheit. Stefan Raab passte gut ins Schema, sonst hätte er vielleicht musizierender Metzger werden müssen.

Angeregt vom Erfolg von RTL Samstag Nacht sprangen die anderen Privaten auf den Comedy-Boom auf. Sat 1 setzte etwa auf Ingolf Lück und Anke Engelke. Und dann startete am 5. Dezember 1995 die Harald Schmidt Show. Dass Talker Schmidt jetzt selbst schon Geschichte ist, qualifiziert ihn besonders für die Moderation der Geburtstagsshow 20 Jahre Sat 1 am Neujahrsabend. Das Schmidt-Team wird im Original-Deko des Glücksrades ein paar Runden der einst mega-erfolgreichen Game-Show nachspielen.

Längst aber hat sich das Glücksrad ausgedreht. Die Privaten sind recht seriös geworden. Bei RTL heißt das, dass der Sender bald in "Günther Jauch" umgetauft werden könnte, so viel moderiert und produziert der Glücksbringer von Wer wird Millionär?. Nur die ziemlich tumbe Kuppelshow Der Bachelor deutet an, dass der Weg zurück zur Körperlichkeit gehen könnte - dann wäre es konsequent, endlich auch Tutti Frutti zu wiederholen.

© SZ v. 18.12.2003 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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