40 Jahre 68er-Revolution:Wie ist die Lage der Nation?

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Was ist geworden aus der sexuellen Befreiung und Emanzipation, 40 Jahre später? Augenzwinkernd macht sich ein Filmteam in "Drunter & Drüber" auf die Suche.

Sarah Ehrmann

Es war eine Jugendbewegung, die vor 40 Jahren die sexuelle Revolution in die Köpfe und in die Betten brachte. Seit einigen Jahren nun geht der Kampf um Emanzipation in die zweite Runde: Charlotte Roche, Lady "Bitch" Ray und die "Alphamädchen" heißen die Nachfolgerinnen von Alice Schwarzer, die nun mit ihren ganz eigenen Vorstellungen von Feminismus und sexueller Revolution Furore machen.

In den Kuscheltreffs: Berührung ohne Erotik. (Foto: Foto: LOOK! Filmproduktion / Claus Räfle)

Wie aber sieht es aus mit dem Status quo der sexuellen Befreiung? Wie befreit oder wie abgestanden ist die Luft in deutschen Schlafzimmern? Auf die Suche nach einer Antwort macht sich nun die zweiteilige RBB-TV-Dokumentation "Drunter & Drüber".

Auf ihre ganz eigene, unterhaltsame, augenzwinkernde Weise untersuchen die Filmemacher Claus Räfle und Alejandra López "Neues zur Lage der Geschlechter" (I. Teil) und "Wie die sexuelle Revolution die Rollenbilder in Bewegung brachte" (II. Teil) - passend zum Jubiläum "40 Jahre 68er".

Interview- und Reportagen-Ausschnitte aus den sechziger und siebziger Jahren stellen Räfle und López den überraschend offenen Aussagen heutiger Großstadtmänner und -frauen gegenüber. "Experten" - ein Paartherapeut, ein Flirtcoach und ein Trendforscher kommentieren die Aussagen der Interviewten. Sie rücken die universellen Lebensentwürfe und Darstellung der Phänomene dieser Zeit in ein größeres Ganzes, bieten Rück- und Ausblick.

Propaganda über den verweichlichten Hausmann

Über 150 Stunden Originalfilmmaterial und rund 50 Stunden neue Filmaufnahmen hat das Filmduo im Vorfeld gesichtet. "Man war immer auf der Suche nach dem großen Fang", erinnert sich Grimme-Preisträger Claus Räfle an die Suche nach den perfekten Bildern. Doch die gelang. So geht es um die Studentenrevolution in den Sechzigern, um den Kampf um weibliche Emanzipation und Gleichberechtigung - und zwischendurch fragt eine Studentin während eines Treffens "Will noch jemand Kaffee" - um dann prompt aufzustehen und die männlichen Diskussionspartner zu bedienen.

Von Filmaufnahmen der Kommune 1, über fast schon propagandistisch-geschürte Angst vor einem verweichlichten Hausmann, der in Schürze und Pantoffeln zu Hause den Haushalt schmeißt, spannt sich der dramaturgische Bogen bis hin zum Kampf um die Antibabypille - die Anfang der sechziger Jahre nur verheirateten Frauen verschrieben wurde. Es scheint gefühlte hundert Jahre her zu sein, dass Sexualität noch in die Betten von Ehepaaren gehörte und die Frau über eine Schwangerschaft kein Mitspracherecht hatte.

In der Gemeinschaft alleine

Den wertvollen Reichtum an bis heute anhaltender Freiheit der Konventionen kontrastieren die beiden Filmemacher mit der zunehmenden Verinselung der heutigen Single-Welt - am prototypischen Beispiel des aktuellen Single-Trends "Speed-Dating": In sieben Minuten soll der zwischen wählerisch und unentschlossen schwankende Großstadt-Single einen potenziellen Lebensabschnittsgefährten aus dem Wust an Angeboten herausfiltern - nicht so einfach, wie es sich anhört, denn inzwischen haben Singles Probleme, sich festzulegen, aus Angst, etwas zu verpassen, wie der Off-Kommentator erläutert.

Unterstrichen werden die wenig positiven Aussagen über die heutige Lage der Singles durch entsprechendes Bildmaterial: Da hocken jede Menge Einzelpersonen mit ihren Laptops nebeneinander im Café und scheinen ihren virtuellen Flirt dem realen Blickkontakt vorzuziehen.

Auf der nächsten Seite: Gruppenkuscheln, Erotikmesse, Asexualität - wie man Phänomenen unserer Zeit gerecht wird.

Auf dem Fernsehschirm wirken viele der vorgeführten Phänomene dieser Zeit - wie Polyamorismus (Beziehung zu mehreren Partnern gleichzeitig), Kuscheltreffs oder Erotikmessen - durchaus befremdlich. Das macht die Sendung nicht weniger sehenswert, beweist aber doch, dass es schwierig ist, von der klassischen Mann-Frau-Beziehung abweichende Lebensentwürfe dokumentarisch-nachvollziehbar darzustellen, ohne dass es für die Betroffenen peinlich oder verletzend wird. "Die eleganteste Darstellungsform ist distanzierte Ironie", sagt Dokumentarfilmemacher Claus Räfle auf Nachfrage von sueddeutsche.de.

Verinselung unserer Gesellschaft - ein Sinnbild für den Single-Alltag. (Foto: Foto: LOOK! Filmproduktion / Claus Räfle)

Ein schmaler Grat: Durch distanzlose Annährung würde es so wirken, als wäre das Phänomen durchschnittlich, diskussionsfrei. Durch zu große Distanz zwischen Filmteam und Befragten könnten diese "abnormal" oder "anders" wirken.

Wenn die ledige Journalistin Hanna berichtet, dass sie zur Zeugung ihrer Tochter einen homosexuellen Mann ausgewählt hat, der wiederum mit Freund und Liebhaber glücklich ist, oder wenn die Kamera den Ingenieur André zum Kuscheltreff begleitet, Peter beim Surfen in der Erotik-Community beobachtet und sowohl Polyamoristen wie auch Asexuelle über sich selbst und ihre Beziehung berichten, arbeitet das Kamerateam vorsichtig, kombiniert Interviewsequenzen mit Aufnahmen von alltäglichen Unternehmungen - auf dem Spielplatz, auf der Bowlingbahn, im Zug.

Aus einem simplen Grund: Die Befragten sollen in erster Linie als Menschen und erst auf den zweiten Blick als Beispiele für Phänomene dieser Zeit angesehen werden. So kommen sie auch immer erst einige Male zu anderen Themenkomplexen zu Wort, bis sie dann selbst für einen bestimmten Bereich im Vordergrund stehen. Ein grundsätzlich gelungenes und ansprechend umgesetztes Konzept.

Und dennoch bleiben dem Zuschauer die vorgeführten Lebensentwürfe eher fremd. Ist doch ein Kuscheltreff, bei dem Männer und Frauen "gruppenkuscheln", angeblich ohne dabei erotische Spannung aufzubauen, eher ungemütlich anzuschauen.

Auslaufmodell Mann

Aus den Aussagen der "Experten" soll eins deutlich werden: Jeder Single suche nach der Beziehung fürs Leben, doch gleichzeitig sinke die Bereitschaft, sich aufeinander einzulassen. Von fünf Millionen Mitgliedern auf neu.de - Eigenangabe des Betreibers - würden immer noch drei Viertel die Ehe als Ideal betrachten, wohingegen sich in der Gesellschaft ein starker Trend zur "seriellen Monogamie" ausbreite, wie Berater und Flirtcoach Eric Hegman analysiert.

Man kann durchaus lächeln über die zum Teil 40 Jahre alten Aussagen der Interviewten, die zugeben, eigentlich gar nicht heiraten zu wollen. Aber ist der Trend zu allumfassender Freiheit, gekoppelt mit zunehmend stärkerer Ich-Zentriertheit denn nun besser als die Ehe?

Inzwischen erscheint es selbstverständlich, dass eine Frau nicht heiraten muss, selbst entscheiden kann, ob und in welchem Beruf sie arbeiten möchte und wie, wann und mit wem sie körperlicher Lust frönt. In den dazugeschnittenen Aussagen von heute wird allerdings eines klar: "Zur Freiheit verurteilt" versuchen zunehmend mehr Menschen, sich von der Vielzahl an sexuellen Möglichkeiten zurückzuziehen, eine Entscheidung für etwas und gegen etwas anderes bewusst zu umgehen.

Und wie sieht es mit der Entwicklung der Geschlechter aus? Sind Frauen inzwischen tatsächlich so stark emanzipiert, dass es nun an der Zeit für die Emanzipation einer "neuen Männlichkeit" wäre? Die Gründung der Männer-Partei und ein Gesprächskreis für Männer sprechen dafür. Doch dem Filmteam Räfle und López genügt eine einseitige Darstellung nicht. Und so statten sie sowohl dem Männermagazin Matador als auch der Frauenzeitung Brigitte mal einen kleinen Besuch ab - mit durchaus überraschenden Erkenntnissen.

Der erste Teil von "Drunter & Drüber", "Neues zur Lage der Geschlechter", wird am heutigen Dienstag um 20:15 Uhr im RBB ausgestrahlt.

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