25 Jahre Deutscher Herbst:Der kalte Schmerz

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Warum die RAF der Politik so wenig zu sagen hat

SONJA ZEKRI

Er war ein harter Brocken für die Gefängniswärter. Sergej Netschajew, fanatischer Revolutionär, Terrorist und Gelegenheitsmörder, wurde 1872 mit 25 Jahren in ein russisches Gefängnis gesperrt, doch in Wahrheit war nicht er, sondern waren seine Bewacher ihm ausgeliefert. So flammend war seine Rede und so zwingend sein Wille, dass ihn die ungebildeten Soldaten bald nur noch "unseren Adler" nannten und für ihn Geheimtreffen organisierten, bis sie, einen Zarenmord später, aufflogen. Ihr Verführer war der Vater des modernen Terrorismus, der mit seinem "Katechismus" einen Ur-Text des gewaltsamen politischen Umsturzes verfasst hatte, Lenin und Horst Mahler beeinflusste und Dostojewski zur Figur des Werchowenskij in den "Dämonen" inspirierte.

(Foto: SZ v. 17.10.2002)

Netschajew hätte das Ende des Deutschen Herbstes bedauert. Die Entführung der Lufthansa-Maschine "Landshut", die selbst in RAF-Kreisen umstritten war und heute vor 25 Jahren beendet wurde, die Ermordung des damaligen Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer einen Tag später, das alles entsprach seinem Programm: Betrug und Erpressung, den Mord an Unschuldigen und sogar Selbstmord hielt er für sittlich geboten, um "Leid und Not des Volkes zu steigern, damit es schließlich zu einem allgemeinen Aufstand getrieben wird." Das war, zumindest strategisch, das Prinzip der "Stadtguerilla" in nuce.

Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Jan-Carl Raspe und Irmgard Möller waren ebenfalls harte Brocken für die Beamten im siebten Stock von Stammheim, allerdings aus gegenteiligen Gründen: "Wir sagen, der Typ in Uniform ist ein Schwein, das ist kein Mensch", hatte die RAF-Ideologin Ulrike Meinhof verkündet:"Es ist falsch, überhaupt mit diesen Leuten zu reden, und natürlich kann geschossen werden."

Der Deutsche Herbst hat keinen Dostojewski inspiriert, doch heute, ein Vierteljahrhundert, nachdem Baader, Ensslin und Raspe in Stammheim starben, führt die RAF ein zusehends unbeschwerteres Nachleben, das auf den ersten Blick im Widerspruch zu ihrem abrupten Ende steht und sich als Jubiläumseuphorie kaum erklären lässt. Neben der bis heute anhaltenden Auseinandersetzung in der Kunst (siehe nebenstehenden Artikel) erleben wir einen RAF-Retro-Boom, der in Baader-Latschen und Revoluzzer-Leibchen daherkommt und den Vorschlag einer Berliner Zeitschrift für ein RAF-Musical oder eine Meinhof-Satire nur logisch erscheinen lässt.

Doch nicht einmal die rosige Verklärung des ehemaligen "Staatsfeindes Nr. 1" in Christopher Roths Film "Baader" entfacht eine Debatte, und diese Gleichmut lässt sich mit der Hornhaut auf der Seele der Konsumenten, die einer kalkulierten Provokation die Empörung verweigern, kaum erklären. Vielmehr zeigt sich gerade in den schwächsten Werken, wie stark sich die Bilder des "Deutschen Herbstes" von der tatsächlichen Krise gelöst haben, wie vollständig die Erinnerung ihren politischen Gehalt eingebüßt hat, in welch tiefe Sedimente der Oktober 1977 eingesunken ist. Legt man Charles S. Maiers Unterscheidung der Erinnerung in ein "heißes" und ein "kaltes Gedächtnis" zugrunde, wonach die erste Kategorie sich durch das Gefühl einer unauslöschlichen Tragödie, eine längere emotionale Halbwertzeit und einen streng kontrollierten Diskurs auszeichnet, so lautet die Diagnose: Das Gedächtnis des Deutschen Herbstes ist so kalt wie Deutschland im Herbst 2002.

Dieser Temperatursturz ereignete sich lange, bevor die RAF 1998 mit der Auflösungserklärung ihr Scheitern eingestand. Die Morde an Zimmermann, Braunmühl, Herrhausen, Rohwedder - nie aufgeklärt und der RAF nie zweifelsfrei nachgewiesen - wirkten seltsam epiloghaft, als hätten sich die Attentäter auf schreckliche Art im Datum geirrt; während sich ehemalige Terroristen in der DDR ihre spät eingestandenen Reihenhaus-Träume erfüllten, blieb das Bewusstsein eines tödlichen Linksradikalismus' vor allem in der konservativen Presse lebendig. Auch der 11. September hat keine neue Debatte entfacht. In seinem soeben erschienenen Buch "Vom Deutschen Herbst zum 11. September" (Konkret Literatur Verlag) seziert Oliver Tolmein zwar einen naiv- apokalyptischen Antiamerikanismus der RAF, der gewiss den Beifall der Al-Qaida finden würde, doch alles Ringen um Parallelen - bürgerlicher Hintergrund, beste Kontakte in den arabischen Raum - zeigt lediglich, dass der Titel blanker Unsinn ist: Vom Deutschen Herbst führt kein Weg zum 11. September.

Dabei besaß der Oktober 1977 alles, was ein politisches Trauma braucht. Zugegeben, inzwischen hat man einen kühleren Blick auf den vermeintlich drohenden Zusammenbruch von Recht und Demokratie, inzwischen weiß man, wie unwahrscheinlich es war, dass die Bundesrepublik im Kugelhagel ihre demokratische Tarnung würde fallen lassen und sich endlich als der lupenreiner Nazi-Folgestaat entpuppen würde, als der sie die RAF stets gezeichnet hatte. Der Abgrund, in den das Land blickte, scheint aus heutiger Sicht nicht mehr so tief.

Und doch sind nicht nur viele der damaligen Gesetze in Kraft, sondern ein paar neue Anti-Terror-Gesetze dazu, ohne dass sich nennenswerter Widerstand regt; noch sind wichtige Akten wie die Abhörprotokolle aus Stammheim oder die Aufzeichnungen des Krisenstabs nicht zugänglich, sind Ermittlungspannen, Widersprüche und brennende Fragen nicht geklärt. Durfte Bundeskanzler Helmut Schmidt das Leben Hanns-Martin Schleyers opfern, um den Staat zu retten? Musste er es überhaupt? Wie ernst nahm der Krisenstab den Vorschlag des offenbar ziemlich derangierten CSU-Chefs Franz-Josef Strauß, die Gefangenen in Stammheim nacheinander zu exekutieren - "jede Stunde einen" - und so Schleyer freizupressen? Wer ist verantwortlich dafür, dass das Bundeskriminalamt trotz früher Hinweise nie die Spur zur Wohnung am Renngraben in Erftstadt-Liblar aufnahm, wo Schleyer festgehalten und mit Babynahrung gefüttert wurde? Der Deutsche Herbst hat die Frage nach dem Verhältnis des Einzelnen zum Staat so beunruhigend gestellt, dass sie bis heute virulent sein könnte. Aber sie ist es nicht. Im Gegenteil.

Das Jahr 1977 wird oft als Purgatorium beschrieben: Die obsessive Verklammerung der RAF in die NS-Vergangenheit, die in ihrer Metaphorik auf absurde Weise emporkroch (Boock zur Planung der Schleyer-Entführung: "Das war unsere Wannsee-Konferenz") hat sich, in dieser Lesart, in einer Explosion ent laden, einem "Showdown", wie es die Berliner Historikerin Dorothea Hauser ausdrückt - stellvertretend für das ganze Land, könnte man hinzufügen. Und danach herrschte Totenstille.

Tatsächlich aber gibt es für die inzwischen bis in die Linke reichende Abgeklärtheit im Umgang mit dem linksradikalen Erbe wohl einen weiteren Grund. Im Oktober 1977 besiegte die Bundesrepublik die RAF zweifach, einmal strategisch - denn auch wenn die Hydra fortlebte, ihrer besten Köpfe war sie beraubt. Der entscheidende Sieg aber war der politische, denn der linke Terrorismus erreichte das Gegenteil dessen, was er anstrebte: Die Bundesrepublik war im Frühling nach dem bleiernen Oktober stabiler und selbstbewusster als je zuvor. Der Terror hatte die Menschen dem Staat nähergebracht. Eine Umfrage 1978 ergab, dass die Deutschen die demokratische Ordnung in ihrem Land so stark vertrauten wie die Bürger keines anderen Landes in Europa.

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