Intimsphäre vs. Pressefreiheit:Ab in die Notaufnahme

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Private Schicksale beherrschen die Schlagzeilen - doch das kann teuer werden. Über die unheimliche Nähe von Medienanwälten, Presse und Prominenz.

Hans-Jürgen Jakobs

In Höhe Hausnummer 53 ist der Kurfürstendamm in Berlin von feinerer Art. Hier bieten Geschäfte teure Möbel oder edle Textilien an. Im zweiten Stock des prächtigen Altbaus arbeitet ein Mann, der den Blick in die Wipfel der Kastanienbäume genießen kann - und der sich doch manchmal wie ein Chirurg fühlen muss.

Wer mit ihr im Aufzug hoch fährt, fährt mit ihr auch runter: Die "Bild"-Zeitung wird von vielen Prominenten gefürchtet. (Foto: Foto: reuters)

Morgens, sagt Christian Schertz, 42, sei es bei ihm manchmal wie in der "Notaufnahme": Da sei irgendwo ein problematischer Presseartikel erschienen, mit Falschbehauptungen oder einem Angriff auf die Intimsphäre, und es bleibe kaum Zeit zu reagieren. Dann greift der Jurist zum Skalpell - und fordert, mindestens, eine Unterlassungserklärung. Er spricht von "presserechtlicher Erstversorgung, um Schlimmeres zu verhindern".

In der Rolle des Presse-Chirurgen hat es Schertz zu einiger Bedeutung gebracht. Vor vier Jahren machte er sich mit einem Partner selbständig, seitdem ist die Zahl der Mitarbeiter stetig gestiegen. Von Krise kann hier am Kudamm keine Rede sein - so wenig wie bei Matthias Prinz oder Michael Nesselhauf in Hamburg, anderen bekannten Vertretern aus der Gilde der Prominentenanwälte. Die Zahl von Prozessen rund ums Medienrecht nehme weiter zu, sagt Nesselhauf: "Wir haben seit Jahren steigende Fallzahlen ebenso wie die Pressekammern und Pressesenate." Die Klagewelle steigt augenscheinlich in dem Maße, in dem Verlage und Sender aufgrund von Werbeeinbußen Probleme bekommen. Medienanwälte hätten eine "Art Marktlücke" besetzt, so die Presserechtlerin Dorothee Bölke.

Vordergründig geht es um das dünne Eis, auf dem sich Journalisten bewegen, wenn sie ihrem öffentlichen Auftrag nachkommen - und dabei auch Persönliches von Prominenten publik machen. Dann steht schnell das allgemeine Informationsinteresse gegen den Persönlichkeitsschutz des Einzelnen. Es geht aber auch um Deutungshoheit, um das Image von Stars - und damit um viel Geld. Die einen verdienen mit höherer Auflage, die anderen mit Klagegebühren.

Die Grenzlinien laufen zuweilen verwirrend - so wie im Fall einer Sängerin der Popband No Angels, die wegen des Verdachts auf schwere Körperverletzung kurz vor Ostern verhaftet wurde und zehn Tage in Haft saß. Eine unübersichtliche Lage: Kaum einer in den Redaktionen wusste, was berichtet werden durfte und was nicht - Anwalt Schertz hatte im Auftrag seiner Mandantin ein Informationsschreiben verschickt, das vor intimer Berichterstattung warnte. Sein Hauptgegner war, wie so oft, die Bild-Zeitung aus dem Axel Springer Verlag, die exklusiv über die Verhaftung geschrieben hatte. Das Blatt zog jetzt vorerst gestärkt aus dem Streit, nachdem die Dame von No Angels ein Klagebegehr gegen Bild überraschend zurückzog und die Verhandlung ausfiel.

Ausschluss der Öffentlichkeit

Ein paar Kilometer vom Kurfürstendamm entfernt sitzt der Chefredakteur des Blatts im 16. Stock des Springer-Hauses im Stadtteil Kreuzberg, da, wo früher die Mauer war. Kai Diekmann, 44, klagt über Tricks von Anwälten und Urteile von Presserichtern: "Es häufen sich die Fälle", sagt er, "in denen mit dem Instrument des Persönlichkeitsrechts eine freie Berichterstattung verhindert wird." Da gehe es etwa darum, dass ein einstiger Stasi-Mitarbeiter, der mit einem Filmstar befreundet ist, nicht in Bezug auf die IM-Vergangenheit namentlich genannt werden soll. Sein Fazit: "Die Öffentlichkeit wird immer mehr ausgeschlossen."

Besonders hat es ihm der Berliner Richter Michael Mauck angetan, dem Diekmann 2003 in einer Jubiläumsausgabe der taz die "Gurke des Tages" verlieh. Es gelte in der Branche der Anwälte als leichtes Spiel, in Berlin "an bestimmten Gerichten eine einstweilige Verfügung gegen Zeitungen zu bekommen", sagt der Bild-Chef. Nie hätte er gedacht, dass schon der erste Artikel seines Blatts über die Verhaftung der No-Angels-Sängerin inkriminiert wurde. Es habe geradezu eine Berichtspflicht gegeben. "Eine Skandal-Entscheidung", kommentierte er öffentlich: "Manchmal fragt man sich, wer in Berlin alles Richter werden darf."

Die fragliche Story enthielt überhaupt nicht jene pikanten Details, die später der Darmstädter Staatsanwalt per Pressemitteilung in der ganzen Republik verbreitete. Weil wiederum Anwalt Schertz nach Meinung des Springer-Verlags die Redaktionen über den Fall zunächst falsch informiert hatte, setzte Bild seinerseits eine einstweilige Verfügung gegen dessen Mandantin durch. Der Kontrahent verweist auf fortgesetzten Streit; auch er habe wieder einstweilige Verfügungen erwirkt. So geht das hin und her.

Eine Frage des Geldes

"Einen solchen Fall habe ich selten erlebt", urteilt Anwalt Nesselhauf: "Die Vorgänge betreffen Sachverhalte, die Jahre zurückliegen, Beweise scheinen noch nicht erbracht - viele Medien haben gleichwohl in ihrer Darstellung weit überzogen." Nesselhauf, einst Spiegel-Justitiar, wurde bekannt, als er 2002 für den damaligen Kanzler Gerhard Schröder gegen einen Bericht vorging, der insinuierte, Schröders Haare seien gefärbt. Das nutzte die Opposition damals zu Zweifeln an Schröders Glaubwürdigkeit. Nach der erfolgreichen Intervention verschwand das haarige Thema.

Die Macht der Presse ist heutzutage auch eine Frage, wie viel Geld man in einen Rechtsstreit stecken kann. Die Zahl der Prozesse hat sich erhöht, weil die aus Monaco stammende Prinzessin Caroline gegen Paparazzi-Fotos in bunten Blättern anging. Vor fünf Jahren erstritt sie mit Anwalt Prinz vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ein Grundsatzurteil, das Prominenten mehr Privatsphäre lässt und Berichte nur bei allgemeinem Interesse erlaubt. 50 Chefredakteure protestierten subito in Bild gegen das Urteil - schlimmste Befürchtungen sind seitdem aber nicht eingetreten.

So hat der Bundesgerichtshof das Abbild der Villa von Caroline von Hannover in Kenia zugelassen, weil es der Meinungsbildung diene. Auch wurde gestattet, Heide Simonis nach ihrem Abschied als Ministerpräsidentin im Einkaufszentrum zu zeigen. Viele Medien haben sich korrigiert, Prominentenkinder werden zum Beispiel ohne Einwilligung der Eltern nicht mehr gezeigt. "Die Pressefreiheit ist durch überstürzte Aktionen des Gesetzgebers oder durch Ermittlungsbehörden in Gefahr - nicht aber durch das Caroline-Urteil", glaubt Anwalt Schertz und erwähnt die Durchsuchung der Redaktionsräume von Cicero vor einigen Jahren. Auch würden die viel gescholtenen Pressekammern in vielen Fällen pro Pressefreiheit entscheiden, nur werde darüber nicht berichtet.

Lesen Sie weiter auf Seite 2, wie die Promis die Berichterstattung manipulieren.

Wie sehr sich die Branche geändert hat, zeigt ein Bild, das an der Wand des Büros von Christian Schertz am Kurfürstendamm lehnt. Zu sehen ist das Filmplakat zu Hilde; Hauptdarstellerin Heike Makatsch hat schwungvoll ein paar Zeilen persönlicher Widmung darauf geschrieben. Die Kanzlei hat sie vertreten. "Wir verlagern die Rechtsberatung inzwischen auch in die Zeit vor der Berichterstattung", erklärt Schertz, der Anwalt werde neben den Agenten ein zweiter Rundum-Berater der Stars. Seine Prognose: "Wir bekommen definitiv ein professionelleres System wie in Amerika, in dem Agenten, Publizisten und Juristen die Stars begleiten."

Rufmord und Medienopfer

In einem solchen System ist es quasi unmöglich, Stars spontan und frei zu befragen. Alles ist gelenkt. Alles wirkt abgesprochen - wie jene Bilder, die passend zur neuen Liebe der Schauspielerin Veronica Ferres erschienen. Schon gibt es Fälle, in denen Anwälte den Redaktionen drohen, wenn sie eine bestimmte Story veröffentlichen - die dann gezielt, exklusiv natürlich, in einem anderen Medium erscheint. Auch Schertz sicherte so ab, dass das Krebs-Bekenntnis der inzwischen verstorbenen Schauspielerin Barbara Rudnik mit schönen Fotos im Wunschumfeld von Bunte erschien und nicht, garniert mit Paparazzi-"Abschüssen", in Bild. Ein Interview sei, sagt Schertz, der an Universitäten lehrt und ein Buch über Rufmord und Medienopfer mitherausgegeben hat, juristisch nichts anderes als eine vertragliche Beziehung zwischen Presse und Star. Es sei selbstverständlich, dass der Interviewte auch wissen will, welche O-Töne von ihm in den Überschriften herausgestellt werden, erklärt er: "Das ist sein gutes Recht, und das gründet auch auf schlechten Erfahrungen in der Vergangenheit."

Der Anwalt spricht in langen Sätzen. Er lehnt es ab, in Talkshows zu gehen und sieht es als Ausnahme, für einen Reporter von Welt am Sonntag eine Ausstellung mit Paparazzi-Fotos kommentiert zu haben. Ein Prominentenanwalt dürfe nicht zum Anwaltpromi werden, findet Schertz, der schon früh erfahren hatte, was es heißt, in der Presse zu stehen.

In den letzten Jahren vor der Wende, als Ronald Reagan die USA regierte, war sein Vater Georg Polizeipräsident in Berlin. Wegen der Krawalle zum 1. Mai ließ der Behördenchef einmal ganz Kreuzberg abriegeln. Das war schwierig für den Filius, der sich einerseits als politisch linksstehend begriff, andererseits familiäre Solidarität spürte. Christian Schertz wollte dann Journalist werden und arbeitete als Aufnahmeleiter bei Rias Berlin - ehe er 1994 beim Hamburger Presseanwalt Heinrich Senfft begann.

Boulevard muss Grenzen erfahren

Damals sei das Geschäft "viel unaufgeregter und sicherlich langsamer gewesen", sagt Schertz, der auch Berliner Zeitung, Tagesspiegel und den Rundfunk Berlin-Brandenburg berät. Heute gebe es "sieben Tage Dauerberieselung", nicht zuletzt durchs Internet. Allein für Online-Fälle ist in Hamburg eine eigene Kammer - Nummer 25 - entstanden. Insbesondere der Boulevard müsse Grenzen erfahren, das sei ein Gebot des Humanismus, so Schertz: "Das Ausschlachten privater Schicksale kann ein Angriff auf die Würde des Menschen sein."

Manchmal wird schlicht erfunden, wie im Fall einer bekannten TV-Moderatorin, der eine Schwangerschaft angedichtet wurde. Beleg: Ihr Lebensgefährte habe auf einer Fete schützend seine Hand auf ihren Bauch gelegt. Insbesondere im hart umkämpften Feld der Frauenzeitschriften sieht Experte Nesselhauf viele Sünder: "Während sich einzelne Medien bessern, nehmen hier bedenklioche Entwicklungen weiter zu. Hier werden äußerste Grenzen getestet." Bei Phantomstorys über ausländische Prominente habe man wohl die halbwegs berechtige Hoffnung, die würden sich nicht wehren.

Private Schicksale sind der Stoff, den Leser lieben und damit auch Chefredakteure. Der Blick des Bild-Manns Diekmann ist geprägt von Prominenten, die sich inszenieren, um in die Presse zu kommen - und sich wehren, wenn Ungünstiges verbreitet wird. Er redet von Politikern, die vor der Wahl ihre glückliche Familie ausstellen und sich nach der Wahl von der Frau trennen. Oder von Joschka Fischer, der viel klagte, dessen Frau Minu Barati sich aber mittlerweile gerne öffentlich zeigt. Vieles würde Bild aus Rücksicht nicht bringen, so Diekmann: "Man muss nicht immer alles tun, was erlaubt ist." Vor allem stört er sich an der "Bigotterie bei der Unterscheidung zwischen der angeblich seriösen Presse und den Boulevardmedien - wir recherchieren bei heiklen Geschichten mindestens so gründlich wie alle anderen."

Es gilt in der Branche nicht nur Artikel fünf des Grundgesetzes, es gilt das Prinzip der juristischen Aufrüstung: Seit einiger Zeit sitzt ein Rechtsgelehrter am "Balken", da wo Bild entsteht. Seitdem sei die Zahl der Rügen und Verfahren drastisch nach unten gegangen. Tatsächlich gingen dem Bild-Blog, der über Unregelmäßigkeiten wacht, die Knüller aus.

Allein vor Gericht

Kai Diekmann hält es in seinem Büro kaum auf den Stuhl. Der Mann mit den gegelten Haaren steht vor der Wand mit acht Monitoren, die bild.de und andere Online-Portale zeigen. Er schaut beim Reden durchs Fenster in die Ferne. Das Branchengerede vom Tod der Zeitung erreicht diesen Raum nicht. Bild machte 2008 den größten Gewinn seiner Geschichte. Das sollen motivierte Medienanwälte nicht gefährden. " Bild kämpft für Sie", hieß es früher - inzwischen kämpft Bild viel für sich und streitet vor Gericht, wenn die Geschichte lohnt.

Beispielsweise die über Max Mosley, den Formel-1-Chef, der eine freizügige Party mit Prostituierten gefeiert hat. Hier geht es um die Frage, ob das etwas mit der faschistischen Vergangenheit seines Vaters zu tun hat - oder ob Bild das geforderte Schmerzensgeld von 1,5 Millionen Euro zahlen muss. Auch wieder so ein Fall, der neue Maßstäbe setzt. Fast alle Redaktionen in Deutschland haben sich verpflichtet, nicht mehr über Mosley im Stil der britischen News of the World zu berichten. "Es ist eine Schande, dass wir - soweit wir das wissen - zusammen mit der dpa als einzige gegen Mosley vor Gericht kämpfen", sagt Diekmann.

Christian Schertz dagegen hat Respekt vor Mosley. Der Jurist warnt schon lange vor "Verrohung". Andererseits ist er für eine "Abrüstung" zwischen Presse und Prominenz. Dem dient womöglich der Plan der Bundesregierung, dass sich ein Kläger künftig den Gerichtsstandort nicht mehr frei aussuchen kann, sondern am eigenen Wohnort oder am Sitz des Medienhauses aktiv werden muss.

Und die unglückliche Sängerin der No Angels? Sie wird wohl dabei sein, wenn die Band ihre neue CD vorstellt. Dann gibt sie vielleicht wieder Interviews. Das wird wohl kein Fall für die Notaufnahme.

© SZ vom 29.05.2009/bey - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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