Internetvideo der Woche:Schnellster Fun der Welt

Lesezeit: 3 min

Konfetti, Champagnerdusche und ein Anruf in Jamaika: Ein Video enthüllt, was Usain Bolt während der 9,69 Sekunden seines 100-Meter-Weltrekords wirklich gemacht hat. Die Clip-Kritik.

Christian Kortmann

Wenn man als Kind oder als Erwachsener in kindisch-gelangweilten Momenten eine Stoppuhr in die Hände bekommt, versucht man schon mal, die Stopptaste in einem auf die Hundertstelsekunde genau vorherbestimmten Moment zu drücken, auf dass eine schöne Zahl wie 9,69 Sekunden im Display erscheine. Das ist so schwierig, dass man mehrere Versuche dafür benötigt. Und wenn im Display die richtigen drei Ziffern stehen, "9,69", kehrt die Langeweile zurück. Dann muss man sich neue Ziele setzen.

Der jamaikanische Sprinter Usain Bolt ist genau diese Zeit, 9,69 Sekunden, im 100-Meter-Finale der Olympischen Spiele gelaufen und hat damit einen neuen Weltrekord aufgestellt. Nach 50 Metern hatte er seine Spitzengeschwindigkeit von 43,9 km/h (schneller als die meisten Menschen in der Ebene Fahrrad fahren können) erreicht, die er bis 20 Meter vor dem Ziel beibehielt. Dann begann er zu jubeln und verlor dadurch eine halbe bis eine ganze Zehntelsekunde: Bolt hätte 9,60 Sekunden laufen können. Wollte er vielleicht wie beim Kinderspiel mit der Stoppuhr eine schönere Zahl herbeizaubern?

9,69, man schließe die Augen und lasse die Zahl auf einer imaginären LED-Tafel vorbeilaufen: 9,69, ein nur aus Rundungen und einem Komma-Lidstrich bestehender Wert voller Retro-Schick, der an die große Epoche der Sportwagen erinnert (Porsche produzierte einen Prototypen vom 969). 9,69, eine Zahl, die man wie ein abstraktes Kunstwerk auf den Rücken legen kann, dann steht da auch nicht unhübsch 6'96. Nicht zuletzt könnte die Ziffernfolge eine libertinäre Sexualpraktik bezeichnen, eine Weiterentwicklung von Sixty-Nine: Neunhundertneunundsechzig, warum nicht, wenn es sich ergibt?

9,69 steht nun für Rausch und Geschwindigkeit und unter anderen Umständen, wenn der 100-Meter-Weltrekord ein oder zwei Jahrzehnte hielte, könnte sie zum Synonym für Tempo und sportliche Ausnahmeklasse werden. Zwar präsentieren uns Physiologen regelmäßig Berechnungen, denen zufolge die menschliche Leistungsfähigkeit bald die natürliche Grenze erreicht.

Doch ebenso regelmäßig werden diese Grenzen in der Praxis von besonders hart und smart trainierenden Athleten pulverisiert. So wird auch die 9,69er-Marke bald unterboten werden, von Usain Bolt oder einem anderen Götterboten mit beflügelten Schuhen, der überraschend aus den Kulissen einer "Sprintnation" oder einem Land, das ebenso überraschend zur "Sprintnation" geworden ist, auftaucht.

"Usain Bolt Celebrates Early... Very Early", ein Videoclip der New Yorker Komikertruppe Quiet Library, füllt die Lücke zwischen dem, was man glaubt, das Normalsterbliche zu leisten imstande sind und dem, was Usain Bolt leistet und es zudem verblüffend leicht aussehen lässt. Ein Usain-Bolt-Darsteller kommentiert im Siegerinterview die fiktive Superzeitlupe des Rekordlaufs und erklärt, was er in 9,69 Sekunden alles anstellen kann, so wie Formel-1-Piloten, die bei hoher Geschwindigkeit die Zeit zerdehnt vor sich sehen, Bild für Bild, Moment für Moment, einen 100-Meter-Lauf als Serie von Stillleben.

Weil die Zeit sich so beeilt

Dieser Bolt stellt den "Chinese Guy" in der Startposition, den "White Guy" in der Startposition und sich selbst beim "Start-Posen" vor; seine hervorstechenden Finger symbolisieren einen Blitz. Denn Usain nennt sich "Lightning Bolt", Blitzschlag. Als selbstbewusster Sprinter kann er sich die Showeinlagen leisten. Schon nach wenigen Metern habe er gewusst, dass er das Rennen gewinnen werde, und konnte sich auf die schönen Nebensachen konzentrieren.

Weil er als echter Sportsmann zusammen mit seinen Gegnern feiern will, trabt er, als er in der Mitte des Rennens schon weit voraus läuft, ein paar Meter zurück. Schließlich hat er extra Konfetti in der Hosentasche, das er auf die Mitläufer regnen lässt: "Sehen Sie, wie der Typ ein Gesicht voll Feierlaune genießt?"

Nach 80 Metern hat Bolt endlich Zeit für die Champagnerdusche. Er schlägt ein Rad und ruft die Freundin in Kingston an (leider ist nur der Anrufbeantworter dran). Wo er denn beim Laufen das Telefon transportiere, will der Reporter wissen: "Dort, wo ich auch die Champagnerflasche aufbewahre", antwortet Bolt. Dann wird es allmählich Zeit, wieder das Rennen in den Blick zu nehmen, weil sich nach der Superzeitlupe von Bolts Lauf auch die anderen Läufer der Ziellinie nähern.

Den Gesichtern der Gegner liest man das Bemühen ab, konkurrenzfähig schöne Zahlen neben die 9,69 in die Ergebnisliste zu stellen: Ob 11,11 oder 111,11 Sekunden, das lässt sich kaum sagen, wenn die Zeit macht, was der Mensch will.

Das Leben der Anderen wird 100: Feiern Sie mit uns am 18. September! Anlässlich der 100. Folge der Kolumne "Das Leben der Anderen" zeigt Kolumnist Christian Kortmann die besten Internet-Videos und diskutiert mit Matthias Günther von den Münchner Kammerspielen. Am 18. September um 19 Uhr im Süddeutschen Verlag in München, Eingang Färbergraben 14, U-/S-Bahn Marienplatz. Der Eintritt ist frei.

© sueddeutsche.de/hum - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: