Internetvideo der Woche:Der geplatschte Traum

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Sepak Takraw ist Badminton mit den Füßen: die schwierigste Sportart der Welt und parodistische Laibesübungen in der Clip-Kritik.

Christian Kortmann

Ob Tour de France oder Olympische Spiele, so schön kann man sich die Welt gar nicht reden, um diese Ereignisse rein sportlich zu betrachten. Die Kollateralprobleme sind längst größer als die Sache selbst und lassen den Gedanken aufkommen, dass der Profisport ein historischer Irrtum sein könnte. Der Preis eines geschundenen Körpers für ein Leben zum Wohle von Publikum, Politik und Sponsoren scheint zu hoch und unzivilisiert. Ein Ausweg besteht vielleicht in der Rückbesinnung auf den Amateursport, wie ihn einst englische Gentlemen pflegten, wenn sich beim Verwalten des Vermögens der Ennui allzu drückend auf die Seele legte.

Um in sportliche Terra Incognita - frei von Weltgeltungsansprüchen, Medaillenspiegel-Neurosen und Kommerzialisierungsbemühungen - vorzustoßen, bedarf es einiger Kreativität. Man muss etwas erfinden, da selbst kleinere Sportarten, sogar das Kneipen-basierte Dart-Werfen, früher oder später Flausenfunktionäre in die Öffentlichkeit schicken, die verkünden, endlich "olympisch" werden zu wollen, was nichts anderes heißt, als dass sie eine branchenweite Gehaltserhöhung fordern. Die wahrhaft zweckfreien Disziplinen sind also vom Aussterben bedroht, und Visionäre gefragt.

Gegen 2 Uhr nachts sei die Idee geboren worden, die ihm "dann als was Tolles vorkam", sagt Filmemacher Benjamin Scholz über den Moment, in dem er die Sportart Sitzballpoolspringen erfand. Zur Eröffnungsmelodie von "Wetten, dass...?", dem Signum für exzentrische Amateurideen, versucht ein Zweierteam, gelassener Coach und engagierter Performer, vom Rand eines Swimmingpools abzuspringen und auf einem im Wasser treibenden Sitzball zu landen. Doch der Ball entpuppt sich für den Athleten als sehr, sehr wütender Stier.

Doppelte Laibgeschwindigkeit

Es sieht nach einem Pool von verreisten Eltern aus, im Hintergrund bringt der Elvis-Pappaufsteller aus dem Jugendzimmer eine gewisse tragische Nostalgie in die karibische Kelleratmosphäre. Die tropische Leichtigkeit steigt den Jungs zu Kopf, sie lassen sich von der Vergeblichkeit ihres Tuns nicht von weiteren Versuchen abhalten und schöpfen aus der Absurdität Motivation.

Deshalb hätte der vor bald einem halben Jahrhundert verstorbene Philosoph Albert Camus seine Freude an diesem Videoclip gehabt. Camus schrieb über die mythische Figur Sisyphos, die einen Stein den Berg hinaufwuchtet, nur um ihn dann wieder hinunterrollen zu sehen: "Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen." Immer wieder macht es im Clip "Platsch!", ein anderes Geräusch können die tapferen Männer gar nicht zustande bringen. "Platsch!", das ist der Soundtrack dieses YouTube-Sisyphos'.

Eine Sisyphos-Bergab-Version und wunderbare Möglichkeit, sich den Körper ohne zermürbendes Training und Doping mit großem Ehrgeiz im Wettkampf zu ruinieren, ist das seit mehr als 200 Jahren im englischen Gloucester ausgetragene Cheese-Rolling. Es geht darum, eine steile matschige Wiese hinter einem rollenden Käserad hinabzurennen.

Vision der Körperlichkeit

Der knapp vier Kilogramm schwere Double Gloucester Cheese schießt mit doppelter Laibgeschwindigkeit (112 km/h) den Cooper's Hill hinunter, und weil menschliche Beine nicht so schnell bergab eilen können, kommen die Wettkämpfer ins Stolpern. Wenn eine Ebene schief genug ist, verträgt der menschliche Körper zwar die verwegensten Bewegungsmodi, aber Verletzungen, Prellungen, Stauchungen und Knochenbrüche bleiben nicht aus. Wer als Erster die Ziellinie überschreitet, darf die Rohmilch-Trophäe mit nach Hause nehmen.

Als weitere Variante, mittels Leibesübungen den Zwängen des Weltlichen zu entkommen, bietet es sich an, eine Sportart zu wählen, die annähernd unerlernbares artistisches Können erfordert, und sie dann derart schnell auszuüben, dass mit bloßem Auge niemand genau sieht, was man tut.

Das mag esoterisch klingen, ist in Form des südostasiatischen Ballspiels Sepak Takraw ("den geflochtenen Ball treten") aber sehr anschaulich: In der Stille des Clips "Shaolin Soccer" wirken die Bewegungen, als würden sie in der Schwerelosigkeit von Menschen der Zukunft ausgeführt.

Auch diese Sportart wurde von den Engländern angeregt, die als Kolonialmacht Badminton nach Asien brachten. Neben Gefühl für den aus Rattan geflochtenen Ball müssen die Spieler sich artistisch verrenken und im Luftraum bewegen können. Mit Fußballtennis ist das nur unzureichend beschrieben, weil die Beine der Spieler meist dort sind, wo Badmintonspieler ihre Arme haben: über dem Netz. Fallrückzieher, im Fußball eine Besonderheit, gehören zum Standardrepertoire. Doch die mönchische Sepak-Takraw-Existenz allein scheint nicht zu erfüllen. 2012 in London möchte man gerne olympisch sein, sagen die handelsüblichen Flausenfunktionäre.

Sepak Takraw ist als höchste Form der Körperbeherrschung kein Gegensatz zum dilettantischen Zeitvertreib des Bewegungsamateurs. Denn jede neue Sportart beginnt mit einer Vision davon, was der menschliche Körper sein könnte. Die Versuche von Sepak-Takraw-Anfängern sehen wahrscheinlich ebenso elegant aus wie das Sitzballpoolspringen im nächtlichen Pool.

Die Kolumne "Das Leben der Anderen" erscheint jeden Donnerstag auf sueddeutsche.de. Bookmark: www.sueddeutsche.de/lebenderanderen

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