Installation:Die Kunst, Nischen zu besetzen

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Gut, in München ist der Wohnraum knapp - aber so knapp? Aline Brugel spielt ein Spiel mit der Stadt und unserer Wahrnehmung. Dieses Plakat hängt an der Sparkasse in der Innenstadt. (Foto: Aline Brugel)

Die Französin Aline Brugel steckt Menschen in Holzkisten und fotografiert sie. Nun ist ihr Projekt in München angekommen

Von Evelyn Vogel

Welch ein Glück, dass das Werksviertel so nah am "Franzosenviertel" Münchens hinter dem Orleansplatz liegt. Deshalb kamen bei Aline Brugel schon bei ihrem ersten Streifzug durch die Stadt "heimatliche Gefühle" auf, erinnert sie sich. Seit Mitte Juli arbeitet die Französin im Werksviertel, wo sie als Artist in Residence im Gastatelier der Whitebox bis Mitte Oktober ihre Ideen umsetzen kann. "Ich war vorher schon mal kurz zu Besuch in München", erzählt sie auf Deutsch, das sie von ihrer Mutter, einer gebürtigen Deutschen, gelernt hat. "Aber kennengelernt habe ich die Stadt erst jetzt durch das Projekt". "Das Projekt", das ist das Ding mit der Schachtel.

"Corps in Situ in City" nennt die 30 Jahre alte Künstlerin, Tänzerin und Bühnenbildnerin ihre Idee, die sie mit sechs Tänzern des Kollektivs "C'est par où la danse?" 2011 als Streetart-Projekt in Rennes erstmals umgesetzt hat. Mehr als 80 Menschen hat Aline Brugel damals gebeten, allein oder zusammen in eigens gezimmerte Holzkisten zu steigen, um sich darin fotografieren zu lassen. Die Aufnahmen wurden teils lebensgroß auf Plakate gedruckt und auf Mauern von Häusern geklebt. Und zwar so, dass die Formate der Kisten sich in vorgetäuschten Nischen und Hohlräumen von Bauwerken perfekt in die Fassaden einpassen.

Die Wirkung ist verblüffend: Menschen tauchen unvermutet auf, mal auf Augenhöhe, mal von tief unten oder auch mal von hoch oben. Für den Betrachter entsteht ein Vexierspiel zwischen Ein- und Ausblick. Doch Brugel geht es nicht um Effekte. Sie will vor allem herausfinden, wie die Umgebung - in diesem Falle immer eine beengte und befremdliche Umgebung - die Befindlichkeit der Menschen, ihre Art sich zu bewegen und sich zu geben, beeinflusst. Manche sind mehr als skeptisch, manche wirken, als ob sie Platzangst hätten, manche haben aber auch großen Spaß, sich gemeinsam mit anderen in eine Kiste zu quetschen und Arme und Beine, Köpfe und Körper in eine für alle annehmbare Position zu bringen. Und auch die Wirkung der gezeigten Situation auf die Betrachter interessiert die Französin: "Ich will die Menschen dazu bringen, ihre eigene Stadt neu zu erkunden."

Der ersten Aktion in Rennes hat Aline Brugel zwei weitere "Corps in Situ in City"-Projekte folgen lassen, unter anderem eins im australischen Melbourne. 50 Locations hat sie mittlerweile bespielt, mehr als 250 Menschen sind für mehr als 150 Aufnahmen in ihre Schachteln gekrochen, die sie am liebsten aus gebrauchtem Holz baut. Und immer waren damit viele Geschichten verbunden: Über die Menschen, die in die Kisten kriechen, und über die Orte, an denen die Plakate dann hängen. Das, so Brugel, sei auch ein wesentlicher Aspekt: Um die Häuser, Giebel, Säulen und Brücken zu finden, an denen die Plakate angebracht werden können, sucht sie die Stadt ab, telefoniert, klopft und klingelt an Türen, um Mieter und Eigentümer von ihrer Idee zu überzeugen und sie dazu zu bringen mitzumachen.

So kommt die Künstlerin mit den Menschen, die hier leben, wohnen und arbeiten, ins Gespräch. Manche befürchten, dass die Fassaden beschädigt werden oder wollen keinen Stress mit den Vermietern. "Aber die Häuser leiden ja nicht unter der Aktion", erzählt Brugel, "aber dennoch muss man die Menschen davon überzeugen. Und es eignen sich nur Häuser mit bestimmten Fassadenstrukturen".

Nun realisiert Aline Brugel ihr Projekt also in München. Im Mittelpunkt der Aktion, die seit Dienstag im Stadtgebiet sichtbar wird, stehen Menschen, die mit dem Werksviertel zu tun haben. Menschen, die dort arbeiten, aber auch Passanten. Es geht, wie es die Verantwortlichen der Whitebox formulieren, darum "Protagonistinnen und Protagonisten des neuen Stadtteils ablichten zu lassen und dabei die Vergangenheit mit Gegenwart und Zukunft des Geländes zu verbinden". Auch deshalb werden Musiker des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks irgendwo auf den Plakaten auftauchen, wenn auch ohne Frack und Instrument. Denn sie gehören zur Zukunft des Werksviertels, wenn der Konzertsaal einst hier gebaut sein wird. Und der wird womöglich ja eine Schuh-Schachtel sein.

Nun aber schickt Aline Brugel die Betrachter erst einmal auf eine Entdeckungsreise durch die Stadt. Zusammen mit ihrer Assistentin Laura Braun hat sie zwischen Werksviertel und Marienplatz bis zu 20 Orte ausgemacht, an denen die Plakate hängen sollen. Dazu zählen öffentliche Gebäude wie die Stadtsparkasse, das Deutsche Museum, die Lothringer-13-Halle oder der Gasteig, aber auch private Wohnhäuser, kleinere Geschäftshäuser, Passagen, Cafés und Wirtshäuser, bei denen die Eigentümer, weil ihnen die Idee so gut gefiel, oft spontan sofort zusagten, wie die Künstlerin erzählt. Bei anderen war allerdings etwas mehr Überzeugungsarbeit zu leisten. Dieser bedurfte es im Werkviertel selbst nicht, auch hier wird es einiges zu entdecken geben.

Und damit es auch für die, die ihre Stadt bestens zu kennen glauben, nicht langweilig wird, werden etwa alle zwei Wochen weitere Plakate auftauchen (näheres in den Social-Media-Kanälen der Whitebox). Hängen bleiben sollen sie bis fast Ende Oktober - mit allen Spuren, die der Stadtraum und seine Bewohner erfahrungsgemäß hinterlassen. Denn dass Sprayer oder gelangweilte Jugendliche sich auf ihre Art mit den Plakaten einen Spaß machen, dass versucht wird, etwas abzureißen oder auch mal ein Plakat zu stibitzen, das kennt Aline Brugel bereits. "Das gehört zum Spiel", sagt sie lächelnd und zuckt die Achseln. "Schließlich spiele ich ja auch mit der Stadt."

© SZ vom 30.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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