Ingmar Bergmans Zeit in München:Ein freudiger Schock

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Im Februar 1976 floh der weltberühmte Regisseur Ingmar Bergman vor den rabiaten schwedischen Finanzbehörden nach München. Joachim Kaiser erinnert an diesen Glücksfall für das Theaterleben der Stadt.

Einige aufregende Jahre lang hatten Münchens Theaterfreunde Grund, den Stockholmer Steuerfahndern dankbar zu sein. Im Februar 1976 floh der damals schon weltberühmte Schauspielregisseur und Filmschöpfer vor dem rabiaten schwedischen Fiskus nach Deutschland, zum Münchner Residenztheater. In seiner Heimat war er während einer Theaterprobe wegen Steuerhinterziehung verhaftet und angeklagt worden.

Es war ein freudiger Schock fürs Kultur-München, dass ein Künstler vom Ruhm und Weltrang Bergmans die Stadt zu seinem Arbeitsplatz auserwählte. Für den damaligen, krisengeschüttelten Residenztheater-Chef Kurt Meisel, dem Bergman das Leben keineswegs leichtmachte, bedeutete die tätige Anwesenheit eines Regisseurs von solchem Kaliber - der mannigfache Oscars "für fremdsprachige Filme" sein eigen nannte - einen Erfolg, der allen damaligen Gegnern Meisels den Mund verschloss. Hatte nicht sogar Woody Allen neidlos bekannt, Bergman sei der größte, tiefsinnigste Filmschöpfer der Gegenwart?

Nachdem ich als junger Theaterkritiker bei Aufenthalten in Schweden Bergmans dortige Inszenierungen überwältigt bewundert (aber wegen der schwedischen Sprache nicht verstanden) hatte, hoffte ich voller Begeisterung auch, mit Bergmans Ankunft sei für München ein Goldenes Zeitalter angebrochen.

Gewiss: Er musste sich auf die deutsche Sprache, deutsche Schauspieler, deutsches Publikum und deutsche Rezensenten einstellen - den Kritikern schmeichelte er keineswegs, mied persönliche Kontakte, ließ mich immerhin bei einer zufälligen Begegnung wissen, wie und warum er so viel vom "Fidelio" halte. Da schwebte ihm eine finster-große Neuschöpfung vor. Im Übrigen bedeutete er den Kritikern, er habe seinen Beruf in jahrzehntelanger Anstrengung erlernt. Was ihm gelungen sei und was missglückt, das wisse er besser als beamtete Besserwisser.

Hier in München brachte Ingmar Bergman einige bemerkenswerte Inszenierungen heraus. Mit der "Hedda Gabler" von Ibsen aber gelang ihm eine Interpretation, deren gestaltete Beziehungsfülle und historische Tiefe auch mehr als ein Vierteljahrhundert später noch als exemplarisch gelten muss. Genialisch, unvergesslich, originell und beziehungsvoll. In einer Gegenwart, die nur zu gern immer wieder Meisterwerke als Steinbrüche für aktualisierende Event-Veranstaltungen ausbeutet. Die weder Buchstaben noch Geist großer traditioneller Werke als verbindlich betrachtet.

Ein Stück geht in die Theatergeschichte ein

Nicht alle Bergman-Darbietungen seines Münchner Jahrfünfts gelangen gleichermaßen. In Strindbergs "Traumspiel" kam die surrealistische Komponente ein wenig zu kurz. Tschechows "Drei Schwestern" litten darunter, dass sich die poetische Atmosphäre nur gebrochen darstellte. Vielleicht, weil Bergman zu viel Deutsch konnte, um sich helfen zu lassen - aber eben doch zu wenig, um das Gewicht einzelner Worte differenziert zu fühlen. In Molières "Tartuffe" wiederum stieß man befremdet auf den unüberbrückbaren Unterschied zwischen französischer und skandinavischer Heiterkeit.

Diejenigen, die seinerzeit verwundert staunten über Bergmans auffällige Zurückhaltung, Werktreue, Diskretion, mochten es sich damit erklären, dass Theaterarbeit für den waghalsigen Filmregisseur Bergman vielleicht doch nur eine (von ihm freilich lebenslänglich praktizierte) Nebenbeschäftigung sei. Er selbst sah das anders. "Für mich ist Theater mein Hauptberuf. Müsste ich mich entscheiden zwischen Bühne und Film, ich würde immer das Theater wählen", bekannte er in einem damals aufsehenerregenden Interview.

So gelang ihm eine kongeniale Verfilmung der Mozartschen "Zauberflöte" mit dem unvergesslichen Papageno (Hakan Hagegard) im Schnee. Ausgerechnet jene überheikle Mozart-Oper, die so oft läppisch, kurzatmig, kindisch oder steif erscheint, die bei Festspielaufführungen meist zu idiotischem Klamauk verkommt - ausgerechnet diese allzu leichte und allzu schwere "Zauberflöte" verwandelte Bergman in einen Kinofilm, wie er heiterer, seliger, unprätentiöser nicht zu denken ist.

Wer weiß, ob dieses Zaubermärchen nicht so etwas wie eine Befreiung, eine Erlösung für Bergman war. Mozart erlaubte ihm, der es sich sonst so schwermachte, machen musste, zu zeigen, wie viel Liebesfähigkeit, wie viel reine Zärtlichkeit, ja wie viel Optimismus in ihm steckte. Ein Medium ging da im anderen auf.

Was aber machte nun den theatergeschichtlichen Rang von Ingmar Bergmans Münchner "Hedda Gabler"-Inszenierung aus, die 1979 herauskam?

Hedda Gabler, das ist jene herrisch-überspannte Generalstochter, die ein junges gefährdetes Genie, Lövborg, einst geliebt, aber aus Feigheit oder Frigidität nicht geheiratet hat. Dafür nahm Hedda dann später den netten harmlosen Professor Tesman zum Gatten. Taucht nun der geniale Lövborg mit einer tapfer naiven Partnerin wieder auf, dann bewirkt Hedda die Katastrophe: Sie vernichtet Lövborgs originelles, ungedrucktes Werk, weist ihm den Weg in den Selbstmord, erschießt sich selbst ohne Zittern. Übrig bleiben die braven Bürgerlichen. Denn Hedda Gablers rauschhafte Zerrissenheiten und widerspruchsvolle Aktivitäten werden überwölbt von einer Passion, die alles Disparate ihres Charakters zusammenzuhalten scheint: von der tragischen Arroganz einer unangepassten Heldin, die keine Ruhe zu geben vermag, bevor sie ihr Ende herbeigezwungen hat.

George Bernhard Shaw, der ein kluges Buch über Ibsen geschrieben hat, ("The Quintessence of Ibsenism") warf der schwärmerischen, von "Weinlaub im Haar" träumenden Hedda vor, sie habe nur romantische Ideale besessen, sei eine typische 19. Jahrhundertfigur.

In seiner Münchner Inszenierung zeigte Ingmar Bergman, dass Shaw irrte. Genauer: Dass nur die eine Seite, die eine Hälfte der Hedda aus dem 19. Jahrhundert kommt. Die heftigere, unverständlichere, jede harmonische Lösung ausschließende Seite dieser Frau aber stammt aus tiefer, mythischer Ferne.

Die Modernität dieses Schauspiels hängt damit zusammen, dass Ibsen die enorme Zerrissenheit der Titelheldin eben nicht in eine große klassische Blankvers-Tragödie fügte, sondern in den realistischen Dialog eines scheinbar zeitgenössischen Konversationsstücks.

Ingmar Bergman und die großartig herbe Christine Buchegger führten die doppelte Motivierung von Ibsens Hedda theatralisch zwingend vor. (Denn nicht auf die in der Sekundärliteratur bereits zur Sprache gekommene Doppelung, sondern auf ihre sinnvoll-stimmige Verwirklichung kommt es an). Bei der Arbeit an "Hedda Gabler" transponierte Ibsen die Konstellation seines weit früher entstandenen "Nordische Heerfahrt"-Dramas in ein bürgerliches Trauerspiel.

Das Archaische des 19. Jahrhunderts

So erlebten wir nun im Münchner Residenztheater mit, wie quälend und ungeheuerlich fremd Hedda Gabler ihre Existenz zu führen - und doch hochmütige Generalstochter zu sein hat. Um es zu zeigen, steckte Bergman nun aber nicht einfach eine wilde Amazone, eine germanisch depressive Walküre in einen spießigen, bürgerlichen, Gelehrtenhaushalt, wo sich dieses Wesen schlicht komisch und unglaubhaft hätte ausnehmen müssen.

Bergman machte die Situation realer, indem er die Haltung und die Reaktionen von Hedda durchaus mit ihrer bürgerlichen Umgebung und Erziehung in Zusammenhang brachte. Doch ihre Kraft und ihr radikales Anderssein aus ihrer mythologischen Ferne ableitete. Was hochmütige Berührungsangst schien, war auch Amazonentum. Was wie Generalstochter-Kälte wirkte, war eben nicht bloß stolze, großbürgerliche Egozentrik, sondern wölfisch. Was wirr, ja unverständlich anmutete, erklärte sich folgendermaßen: "Oh, dies Lächerliche und Niedrige, das sich wie ein Fluch auf alles legt, was ich auch nur anrühre."

Es ist im Nachhinein schwierig, konkret und penibel auszumachen, was man in dieser Inszenierung, die übrigens damals von der Presse gar nicht besonders heftig gefeiert wurde, neu entdeckte, oder was man in sie hineinsah, gleichsam ergänzend hinzufügte, hineinprojizierte. Diese Ungewissheit hängt zusammen mit Bergmans damals dominierender enorm suggestiver Gewalt. Einige seiner aufregendsten Filme, "Schreie und Flüstern" (1973) und "Herbstsonate" (1978), hatten uns mit der Kraft unwiderstehlicher Obsession gelehrt, auf Bergman-Art zu schauen, zu deuten, die Menschenkenntnisse und das Kameraauge dieses grandios isolierenden und forcierenden Künstlers ins eigene Sensorium zu fügen.

Nun stellte sich die Idee jener "Hedda Gabler"-Inszenierung gewiss konkret genug dar. Während bedeutende Theatermacher der vergangenen Jahrzehnte sich leidenschaftlich darum mühen, aus mythologischen Texten oder griechischen Tragikern das "Moderne" herauszufiltern, vollzog sich Bergmans Verdoppelungstendenz gleichsam in umgekehrter Richtung! Er suchte also nicht im scheinbar so Alten, Vergangenen, aktualisierend das "Zeitbezogene", sondern ihm gelang es, in einem bekannten Ehe - oder Emanzipationsdrama des 19. Jahrhunderts das tief Archaische, Uralte aufzudecken. Tricks, Anachronismen, Kostümscherze hatte er dabei nicht nötig. Er hielt sich getreulich an die Buchstaben des Textes, aber ihren Geist definierte er neu.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, was Bergmans Inszenierungen so eindringlich machte.

Einige Radikalitäten von Bergmans Bühnencharakterisierung der Hedda Gabler könnten den Schluss nahelegen, dass dieser eigentlich doch werktreue, überhaupt nicht auf Sensationen erpichte Schauspielregisseur wahrscheinlich extremer charakterisierte, wenn er auf dem Theater einen vorgegebenen Stoff behandelte, als wenn er "Eigenes" schuf. Also selbsterfundene Dialoge und Figuren verfilmte.

Tatsächlich kommt, beispielsweise, die heftige Aggressionsgeladenheit von Bergmans vielgerühmtem Film "Szenen einer Ehe" nicht der Eiseskälte höhnischer Verachtung gleich, mit welcher Bergman im Residenztheater vorführte, wie sich Hedda, einem finster-bösen Drang folgend, von ihrer Umwelt distanzierte. Den "Szenen einer Ehe" mangelt es nicht an Hass und Aggressivität. Nur: die Protagonisten reden immerhin passioniert miteinander, zerfetzen sich verbal. Daraus aber spricht, trotz aller Konflikte, mehr Zusammengehörigkeitsgefühl, Engagement, Gemeinsamkeit - als wenn die beiden sich starr, eisig, unkommunikativ zurückzögen in tödliche Einsilbigkeit.

So nett Tesman, der nahezu dumme Gelehrte, zu seiner verwöhnten Angetrauten zu sein versuchte - von "Liebe" scheint Hedda förmlich angewidert, wie von etwas Klebrigem. Beklemmender noch: Hektisch schlägt diese Hedda sich auf den Unterleib. Gequält nicht von Schmerzen oder Schwangerschaftsbeschwerden. Sondern offenbar vom Gedanken an das anscheinend in ihr entstehende Leben. Ans Kind, welches eben doch einen Bezug herstellen würde zur verhassten Umgebung, die natürlich auch mit tantenhaftem Wohlwollen lieb-taktlos fragt, ob nach so umfänglicher Hochzeitsreise doch etwas Kleines zu erwarten sei.

Bergman gestaltete seine Verdoppelung mit Hilfe eines in zwei Teile sich gliedernden Bühnenbildes. Hedda musste immerfort präsent sein. Entweder mit den anderen. Oder aber zurückgezogen, allein hinter kleiner schiebetürartiger Trennwand. Dort aber reagierte sie auf die Sätze, die in der gegenüberliegenden bürgerlichen Sphäre gewechselt wurden, keineswegs logisch oder beziehungsvoll. Sondern sie produzierte zusammenhanglos Bekundungen der Qual, der Verachtung, des Ausgesetztseins, wie eine Wölfin im Wohnhaus.

Mit alledem gestaltete Bergman, Ibsen extrem interpretierend, kühn die Sphäre, die Dimension des Überprivaten, Tragischen. Auf derartigen Anspruch verzichten manche moderne Autoren oder Filmemacher, selbst wenn ihnen die eindimensionalen "Beziehungskisten", Konfliktsituationen, Zustandsbeschreibungen schal zu werden beginnen. Sie scheuen offenbar, anti-tragisch, den repräsentativen Anspruch übergroßer Konstruktionen. Für alles das hat Walter Benjamin eine pathetische Formel zu bieten: "Schicksal als Schuldzusammenhang des Lebendigen".

Als man einst von Jean-Paul Sartre wissen wollte, ob Ehe-Stücke heute überhaupt noch auf dem Theater vorstellbar seien, gab er zur Antwort, dergleichen könne durchaus auf die Bühne gehören. Nur müssten diese Ehe-Dramen, um nicht bloß belanglose Boulevard-Klamotten oder TV-Schnulzen zu sein, mythologische Dimensionen haben.

So Sartre. Wie gewichtig, wie evident seine Ansicht ist, machen bedeutende Texte erkennbar. Etwa Becketts "Spiel", wo eine banale Ehebruchs-Komödie in höllischem Licht erscheint. Oder auch die interessantesten Dramen von Botho Strauß. Ingmar Bergman indessen hat die beglaubigende Fülle des Nichtidentischen, des Widerspruchsvoll-Wahren, geheimnisvoller Verdoppelung, genial eindringlich realisiert, als er eine kurze, dankbarer Erinnerung würdige Zeit in München Theater machte.

© SZ. v. 11./12.8.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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