Im Kino: Simons Geheimnis:Hass schluckt Hirn

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Wenn Vater die Mutter nach Israel schickt und ihr heimlich eine Bombe ins Gepäck steckt: Atom Egoyans Film "Simons Geheimnis" über den Terror und die Macht der Medien.

Fritz Göttler

"I am not in drama", sagt der Junge zu der hinreißenden Frau, die seine Lehrerin ist, das heißt, er gehört nicht zu ihrer Theaterklasse. Was Theater für uns alle bedeutet, als Vorführ- und als Verführbetrieb, dass es im Leben seine eigentliche Bühne hat, bekommt man in so ziemlich jedem Film von Atom Egoyan vorgeführt. Die sind gespickt mit bizarren Biographiesprenkeln, falschen Fährten, Storys, die sich als erfunden herausstellen oder zumindest als brutal deformiert. Man spielt da nicht unbedingt, um jemanden zu täuschen - der Spieler, der Manipulator will vor allem sich selbst über traumatische Erfahrungen hinweghelfen. Alles Therapie - Drama, Theater, Kino.

Heilige und Madonna zugleich: Simon trifft auf eine geheimnisvolle Frau - eine kämpfende, verletzbare Mutter. (Foto: Foto: X-Verleih)

I am not in drama . . . Die Lehrerin Sabine hat im Französischunterricht ihren Schüler Simon dazu gebracht, seine Geschichte zu erzählen. Wie sein Vater seine Mutter nach Israel schickte und ihr heimlich eine Bombe ins Gepäck steckte, die während des Fluges detonieren sollte. Ein feiger terroristischer Akt, aber auch: das ultimative Opfer, das die eigene Frau und den eigenen Sohn dem Tod weiht - die Frau war schwanger. Die Bombe wurde aber bei der Gepäckkontrolle entdeckt, die Frau blieb am Leben, der Sohn wurde geboren.

Geburt und Tod, immer wieder bringt der kanadische Filmemacher Atom Egoyan sie mystisch zur Deckung. Das Bild eines Flugzeugs, das sich im dämmerigen Himmel wiegt, suggeriert Verletzlichkeit und Gefährdung, aber auch die Geborgenheit des Kindes im Mutterbauch. Der Vater, der bereit ist den Sohn zu opfern - das Motiv ist eigentlich im Christentum prägnant vertreten, und der Film bedient sich voll im weihnachtlichen Bilderreservoir, Weihnachtskrippe, -baum, -sterne. Ist so ein Vater ein Monster? Oder ist er ein Held? Und: Ist es entscheidend, dass Simons Geschichte gar nicht ihm gehört, dass sie aus einem Zeitungsartikel stammt und, bei Sabine im Französischunterricht, lediglich übersetzt werden sollte? Arsinée Khanjian spielt Sabine, Egoyans Frau - es ist ihre bislang kühnste, undurchsichtigste Kinofigur.

Das Problem bleibt nicht in der Familie. Simon stellt die Geschichte ins Internet, und sofort erhält er Reaktionen darauf aus aller Welt. Junge und alte, betroffene und kühle, fassungslose und eilfertig empörte, Rassisten und Holocaust-Opfer - auf Simons Computer-Bildschirm tauchen sie als Masse von Individuen auf, die durcheinander sprechen. Der Chor der Moderne setzt sich aus lauter Einzelstimmen zusammen, und es ist keine Tragödie, die er kommentiert. Es ist schnell, sagt Egoyan vom Internet, aber es ist nie schnell genug. Auf seine Weise ist das Kino schneller, da wäre Egoyan sich einig mit Godard, in der Komplexität seiner Bilder und der Erfahrungen, die man mit ihnen machen kann. Mit der anverwandelten will Simon seine wirkliche Familiengeschichte klären, in der so viel Hass und Fremdenfeindlichkeit steckt. Die Eltern sind bei einem nächtlichen Autounfall gestorben, war das eine planvolle Fahrt in den Tod?

Hass, heißt es mal, schluckt eine Menge Intelligenz. Die Unbedingtheit, die Unbeherrschtheit, die Gemeinheit, die Simon so vielfach erlebt, sind das Stigma der Welt nach dem 11. September. Die Welt der Fundamentalisten, die sich nur noch hinter der eigenen Lehre verschanzen. Eines Nachts tritt Simon vor seinem Haus eine geheimnisvolle Frau gegenüber, die ihr Gesicht hinter einem martialischen Tschador verbirgt. Sie ist Madonna und Kriegerin zugleich, eine wehrhafte, kämpfende, verletzbare Mutter. I am not in drama, sagt Simon. You are now, kontert die Lehrerin Sabine. Wenn Simon sich an seine tote Mutter erinnert, sieht er, wie man sich aus dem Drama, dem permanenten Rollenspiel befreien kann. Sie steht, eine anbetungswürdige Ansicht, auf einem Steg im See und spielt Violine. Ein Augenblick, der ganz ihr allein gehört.

ADORATION, Kanada 2008 - Regie, Buch: Atom Egoyan. Kamera: Paul Sarossy. Schnitt: Susan Shipton. Mit: Devon Bostick, Arsinée Khanjian, Scott Speedman, Rachel Blanchard, Noam Jenkins, Kenneth Welsh, Katie Boland, Geraldine O'Rawe. X Verleih, 100 Minuten.

© SZ vom 20.5.2009/bey - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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