Im Kino: "Public Enemy No. 1":Nicht zu fassen

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Er nahm das Geld nur von den Banken und den Reichen, hatte stets eine schöne Frau an der Seite und verhöhnte die Staatsgewalt: Das Kino feiert den Ausbrecherkönig Jacques Mesrine.

T. Kniebe

Als die Meldung gegen Mittag des 8. Mai 1978 wie ein Lauffeuer durchs Land ging, die Arbeit in den Büros zum Erliegen brachte und fassungslos in den Bistros diskutierte wurde, fühlten sich die Franzosen für einen Moment wie im Kino. Ihr berühmtester, smartester Gangster, selbsterklärter Täter in 39 Gewaltverbrechen, König der Gefängnisausbrecher mit drei erfolgreichen Fluchten, gerade erst für zwanzig Jahre weggesperrt im eigens für ihn gebauten Hochsicherheitstrakt in der Pariser Gefängnisburg "La Santé". . . hatte es wieder geschafft.

Draußen oder tot: Vincent Cassel und Cécile de France als Ausbrecherkönig und Komplizin auf der Flucht. (Foto: Foto: Senator Film)

War weg. Auf freiem Fuß. Ausgebrochen mit zwei Komplizen, von denen die Polizei einen bei der Flucht noch erschießen konnte. Aber eben nicht ihn: Jacques Mesrine, 41 Jahre alt, Staatsfeind Nummer eins.

In dieser ohnehin gewalttätig aufgeladenen Zeit - nur einen Tag später wurde Aldo Moro erschossen in Rom aufgefunden, drei Tage später hat man Brigitte Mohnhaupt, Peter-Jürgen Boock und andere Täter des Deutschen Herbstes in Zagreb verhaftet - kann man sich die Legende, zu der Mesrine in Frankreich wurde, gar nicht überlebensgroß genug vorstellen.

Der Rebell

Seine Selbststilisierung als Rebell, der das Geld nur von den Banken und den Reichen nahm, seine Interviews, die er für Paris Match und andere Medien gab, seine Ausbrüche mit Ansage und Verhöhnung der Staatsgewalt, ja die selbst auf Polizeifotos offensichtliche Schönheit der Komplizinnen, die bei jeder neuen Verhaftung mit ihm aufgegriffen wurden - das alles ist pures Kino. Man muss da gar nichts überhöhen oder dazuerfinden, und auch das Drehbuch schreibt sich quasi von selbst - solang man sich nur genügend Zeit lässt für all die absurden Eskapaden dieses Lebens.

So tat der Regisseur Jean-François Richet schon gut daran, die Sache gleich als Großprojekt anzugehen: Zweimal etwa zwei Stunden Zeit nimmt er sich, was zwei quasi eigenständige Filme ergeben soll. Die kamen in Frankreich mit einem Monat Abstand ins Kino, dieselbe Strategie verfolgt nun auch der deutsche Verleih. Wenn der erste Teil mit dem Titel "Mordinstinkt" - nach der im Gefängnis geschriebenen, poetisch ambitionierten, wild übertriebenen Autobiographie Mesrines benannt - jetzt anläuft, sollte man ihn dennoch nicht allein bewerten.

Es geht hier vor allem um die frühen Jahre, die allmähliche Verfertigung eines Berufskriminellen nicht durch widrige Umstände, sondern durch eine doch recht autonome Entscheidung zur Gesetzlosigkeit. Die ersten Coups sind allerdings nicht besonders raffiniert, vieles wirkt sinnlos brutal, anderes geht auf ziemlich banale Weise schief. Auch eine kurze Phase der Bürgerlichkeit als Familienvater mit drei Kindern muss abgehandelt werden. In dem Moment, wo Mesrine nach seinem zweiten spektakulären Ausbruch in Kanada als Figur richtig interessant wird, endet Teil eins. Immerhin aber hat der Mann sein Lebensmotto gefunden: "Dehors ou mort" erklärt er - draußen oder tot.

Lesen Sie weiter auf Seite 2, welches unheimliche Talent der Ausbrecherkönig besaß.

All die Aktionen voll spektakulärer Nonchalance, für die Mesrine in Frankreich unvergessen ist, passieren dann erst nach seiner Rückkehr in die Heimat, im zweiten Teil - und doch braucht auch dieser Part seine Vorgeschichte, einen Resonanzraum des Schmutzigen und Alltäglichen, um die Figur nicht völlig fiktiv erscheinen zu lassen. Das ganze Phänomen erschließt sich also aus der Gesamtschau - und macht auch klar, wo die Mesrine-Romantik der Franzosen mit der Romantik des klassischen französischen Gangsterfilms zur Deckung kommt, und an welchen Stellen sich diese Welten auch wieder aufschlussreich unterscheiden.

Der echte: Ausbrecherkönig Jacques Mesrine muss ein unheimliches Talent besessen haben, Menschen für sich einzunehmen. Hier ein Polizeibild. (Foto: Foto: AFP)

So sehr Mesrine den Ruf zelebrierte, erst zu schießen und hinterher zu überlegen, auf eine Selbststilisierung legte er größten Wert: ein "ehrenwerter" Gangster zu sein und zu seinem Wort zu stehen, sei es in Übergabeverhandlungen mit der Polizei oder in der Loyalität zu seinen Komplizen. Was durchaus dem cinematographischen Gangsterbild entspricht, das vor allem der Regisseur Jean-Pierre Melville für Frankreich gezeichnet hat, stark inspiriert vom Ehrenkodex der Samurai - Alain Delon als "Eiskalter Engel" ist da noch immer die quintessentielle Figur.

Einsam wie der Tiger im Dschungel sei dieser Held, lautet der berühmte Satz in Melvilles Film - und da enden dann auch schon die Gemeinsamkeiten. Einsam ist Mesrine nur in Einzelhaft - sonst muss er ein geradezu unheimliches Talent besessen haben, Menschen für sich einzunehmen: Gefängniswärter, die heimlich auf seiner Seite standen, Mittäter, Frauen, die ihm bis ans Ende der Welt gefolgt wären. Wie er das machte, ist bis heute ein Rätsel - auf seinen realen Polizeifotos sieht er weder besonders attraktiv noch übermäßig verwegen aus, eher wie einer jener Gemütsmenschen mit etwas fülligen Wangen, die eine Zigarre und einen guten Wein schätzen und die der Schauspieler Philippe Noiret in seiner Laufbahn perfektioniert hat.

Da beginnt dann die Interpretation des Schauspielers Vincent Cassel, die den Film vor allem trägt: Er verleugnet die hässlichen Seiten der Figur nicht, schafft es aber dennoch, die Leerräume hinter den Fakten mit Energie, charmanter Großkotzigkeit und echter Verführungskraft zu füllen. So einem könnte das alles gelungen sein, denkt man sich - und staunt über die bürgerliche Bonhomie, die trotz aller Rebellenrhetorik immer mehr zum Vorschein kommt.

So muss man den realen Mesrine am Ende wohl sehen: Als Phantasiefigur und symbolischen Agenten eines aufgekratzten, nicht nur klammheimlich sympathisierenden Bürgertums.

Die Entscheidung der Polizei, den wieder einmal gestellten Staatsfeind im November 1979 bei der Verhaftung erschießen zu lassen, ist daher eigentlich das falsche Ende. Sie hinterließ eine Leerstelle in der öffentlichen Imagination, die dann überhaupt erst Raum schuf für den verspäteten französischen Linksterrorismus der "Action Directe". Fürs Kino allerdings, so viel ist klar, hätte kein anderer Schluss funktioniert . . .

MESRINE: L'INSTICT DE MORT, F 2008 - Regie: Jean-François Richet. Buch: Abdel Dafri. Kamera: Eric Catelan. Mit Vincent Cassel, Cécile de France, Gérard Depardieu. Senator, 110 Min.

© SZ vom 22.4.2009/rus - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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