Im Kino: Philipp Stölzls "Baby":Verlierer sind ja sowas von sexy

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Sei ohne Sorge! Es geht eh´ alles vorüber: "Haben wir eigentlich Schluss gemacht?", fragt im Film die Frau. "Wir haben ja nie angefangen.", erwidert er. Was sonst soll man auf so eine Frage antworten?

FRITZ GÖTTLER

Die Toten sehen aus in diesem Film, als würden sie schlafen. Beinah entspannt die Körper, der Anflug eines Lächelns auf dem einen oder anderen Gesicht. Gegen Ende wird plötzlich ein junger Motorrad-Cop angefahren - eine komische Episode, ohne tödlichen Ausgang -, der in seiner Übereifrigkeit wie eine lichte Version der schwarzen Todesengel wirkt aus Cocteaus "Orphée".

Man weiß nicht, wird es eine Zukunft geben für die zwei, die drei? Und man denkt an das Lächeln zurück, mit dem sie damals am Tisch saß. (Foto: Foto: Filmwelt)

Wie bei Cocteau befinden wir uns auch hier in einem filmischen Niemandsland. In einer Zone am Rande der Zivilisation, wo alle Wege entweder in die Verzweiflung führen oder in die Exaltation. Für letztere ist vielfach das Massenerlebnis Fußball verantwortlich, für ersteres sorgt die Neigung der Menschen, ihre Situation lyrisch zu überhöhen. Als einer von ihnen, wie vorauszusehen, in einer Strafanstalt landet, zitiert er allen Ernstes dort Rilkes "Panther", die Sache mit dem Vorübergehn der Stäbe.

Es geht um Tod und Neugeburt in diesem Film, um Einsamkeit und Geborgenheit, um die Frage, wie weit ein Mensch sich wandeln muss, damit er sich selber treu bleiben kann. Und wieviel er von all diesen turbulenten Veränderungen mitkriegen kann. Zwei Männer und ein Mädchen haben zusammengefunden, nach außen erscheinen sie wie eine Kleinfamilie, ein Vater, eine Tochter, ein Sohn, im Innern aber verwirren sich die Beziehungen, wie vorauszusehen, ganz gewaltig. Was auch damit zusammenhängt, dass die beiden Männer jeweils schon eine Ehe hinter sich haben, beide haben ihre Frau bei einem Unfall verloren.

Als Nachtclub-Anreißer macht Frank (Filip Peeters) eine ziemlich unglückliche Figur, also versucht er gemeinsam mit dem jungen Paul (Lars Rudolph) sich mit primitiven, ein wenig unbeholfenen Diebstählen durchschlagen. Natürlich fehlt diesen Kleinbürgern die kriminelle Routine zum Erfolg, beim Einstieg in ein Video-Warenlager erschießen sie einen Wachmann. Die Stimmung wird gereizt. In einer Schublade in Franks Werkstatt ruht von nun an eine Waffe.

Frank hat eine schöne solide Dutzendvisage, Marke Reinhard Koldehoff, Typen wie er sind der Stolz zahlreicher B-Movies der Fünfziger oder Sechziger. Hast du eigentlich schon mal was von Dostojewski gelesen, fragt Frank am Abendbrottisch den jungen Tommy, den neuen Freund seiner Tochter Lilli (Alice Dwyer), einen schwarzen Sonnyboy.

Das ist ein Schriftsteller ... einer von den ganz großen. Und wozu das, fragt Tommy und kaut fröhlich, völlig furchtlos an seiner Semmel weiter. Um etwas über das Leben zu lernen. Ich kenn mich aus mit dem Leben, erwidert Tommy. Dein Problem ist, erklärt ihm also Frank, dass du nicht weißt, was Verzweiflung ist. Ich war noch nie verzweifelt, gibt Tommy zur Antwort.

Wolfgang Kohlhaase hat das Buch geschrieben, er hat in den Siebzigern und Achtzigern mit Konrad Wolf und Gerhard Klein einige der schönsten, widerspenstigsten Filme der Defa gemacht, versucht hier Erfahrungen mit westdeutscher Tristesse zu verarbeiten, vom Rande her. Philipp Stölzl hat Regie geführt, der viele Videos für Marius Müller-Westernhagen schuf, "Nimm mich mit", "Durch Deine Liebe", "Ich bin wieder hier". Müller-Westernhagen, heißt es, hat Stölzl zum Kinomachen animiert, war für die Rolle des Frank im Gespräch.

Die Arbeit an den Videoclips hat im Filmemacher eine Sehnsucht nach dem großen Melodram genährt, aber nach dem furiosen Start nimmt Stölzl das Tempo sofort zurück. Er weiß, dass die Formen im Kino nicht mehr ursprünglich sind, und dass es eine Differenz gibt zwischen Kinowahrheit und Natürlichkeit - weshalb er sich fürs CinemaScope-Format entschieden hat, das die Menschen den Objekten gleich macht. Irgendwann ist es dann so weit - dass Lilli den jungen Kumpel Paul verführt, da steht sie in der Tür, den Arm an den Rahmen gestützt - das ist eine vertraute, eine den Stars nachgemachte Pose. Sie bringt Imaginäres ins Spiel der Emotionen und lässt dadurch die beiden zusammenkommen. Danach müssen sie fliehen, vor dem Zorn des Dritten, der, aus der Gemeinschaft ausgeschlossen, sich zum Vater degradiert sieht.

Kurz vor der Grenze, im Niemandsland zwischen Deutschland und Holland, übernachten die Liebenden, die Paul und Anna nun geworden sind, in einem Motel, in zwei Einzelbetten, die Fuß an Fuß stehen, und da liegen sie in weißen Laken wie aufgebahrt, steif, aber entspannt und friedlich. Haben wir eigentlich Schluss gemacht, fragt sie. Wir haben ja nie angefangen, erwidert er. Ruhig ist ihr Gesicht und wunderschön, sie ist erwachsen geworden in dieser Nacht, für diese Nacht, und danach gibt es, zur Weiterfahrt, eine Totale auf die Autobahn, und man weiß nicht, wird es eine Zukunft geben für die zwei, die drei? Und man denkt an das Lächeln zurück, mit dem sie damals am Tisch saß, als Tommy fröhlich sein "Ich war noch nie verzweifelt" anbrachte.

BABY, D 2002 - Regie: Philipp Stölzl. Buch: Wolfgang Kohlhaase, David Hamblyn. Kamera: Michael Mieke. Musik: Ingo Ludwig Frenzel. Schnitt: Sven Budelmann. Mit: Lars Rudolph, Alice Dwyer, Filip Peeters, Hamid Bundu, Christian Grashoff, Irina Platon, Fedja Van Huet, Catherine Flemming. Filmwelt, 104 Min.

© SZ v. 26.02.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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