Im Kino: "Netz der Lügen":The Real Thing

Lesezeit: 3 min

Ein fabelhafter Thriller mit Ashley Judd und Morgan Freeman - "High Crimes - Im Netz der Lügen"

FRITZ GÖTTLER

Nie ist die Welt, das ist eine allgemeine Erfahrung, unwirklicher als zur Vorweihnachtszeit. Erwartungsstimmung überall, unergründliche Tage, die funkeln und schimmern, phantomhaft fast, eine Saison des alltäglichen Surrealismus. Alles ist möglich. Nichts wird mehr sein wie zuvor ...

(Foto: N/A)

Für die junge erfolgreiche Claire, sie wird gespielt von Ashley Judd, fängt kurz vor dem Fest eine Zeit der härtesten Prüfung an, sie erlebt klassische, wenngleich komprimierte Lehr- und Wanderwochen - aus denen sie geschunden und verletzt hervorgeht, aber auch geläutert, gereinigt von falschen Hoffnungen und Ambitionen, dem Leben zurückgegeben.

Es geht los, wie so oft im Kino, mit einem hauchdünnen Riss in der vertrauten Oberfläche der Welt. Kaum wahrnehmbar sind die winzigen Merkwürdigkeiten auf dem abendlichen Union Square in San Francisco, als das junge Paar, Claire und Tom Kubik, mit den glücksverheißenden Einkaufstaschen beladen, nach Hause strolcht. Etwas wackelig der Schritt, mit dem ein Passant an ihnen vorbeizieht, ein wenig ungelenk dieser Straßenverkäufer, dann ein eigentümlich herankurvender Wagen ... Plötzlich Schreie, Tumult, Chaos - Tom wird zu Boden geworfen, gefesselt, verhaftet von einem wilden FBI-Haufen.

Die Inszenierung dieser Festnahme, der irrwitzige Aufwand entspricht der grotesken Wildheit dessen, was man Tom zur Last legt: Ron Chapman sei sein wirklicher Name, er habe 1988 bei den militärischen Einsätzen in El Salvador neun Menschen gekillt, in dem Dorf Las Colinas, in einer knallharten Vergeltungsaktion nach einem Attentat, bei dem drei amerikanische Studenten getötet wurden. Tom, der lässige Manipulateur, der Bastler und Billardmeister Tom, gesteht, dass er wirklich Ron ist, und erklärt die Vorwürfe, die die Marines ihm nun machen, als Komplott, das den wahren Täter decken soll. Aber das Leben der Kubiks ist zerstört, die Karriere von Claire, die natürlich dem Mann folgt auf die Militärbasis und vor Gericht alles tun wird, um ihm das Todesurteil zu ersparen.

Timing ist wichtig für das junge Paar, das in einem Haus lebt im feudalen Marin County. Das streng auf die Minute seine Tage plante, selbst jene kleine Zeitspanne, die nötig und möglich war, um das gewünschte Kind zu machen. Claire ist Strafverteidigerin, in einer Top-Kanzlei, und sie ist unmittelbar davor, ihren Namen im Firmenlogo zu platzieren.

Ashley Judd ist großartig als Profi, in einer hinreißenden Mischung aus Engagement und Arroganz. Sie muss Skrupel verdrängen, wenn es um den Erfolg ihrer Mandanten geht, und sie wird schließlich als Profi versagen, in einem Ausmaß, das man erst am Ende wirklich überschauen kann, weil Persönliches ins Spiel kommt.

Nach dem Anfang in den eleganten Aufsteiger-Kreisen geht es schnell ins kleine Milieu, wie man es kennt aus den Filmen von Carl Franklin - das schwarze der Vierzigerjahre aus "Devil in a Blue Dress", mit dem fabelhaften Denzel Washington als Easy Rowlins, das weiße in dem weepie "One True Thing", einer Sinfonie des Todes mit Meryl Streep.

Es geht um Solidarität bei Carl Franklin, auch in "High Crimes", um die Treue den anderen gegenüber - und sich selbst. Claire verteidigt selbst ihren Mann und lässt sich auf die Regeln der Männerwelt ein, mit Hilfe von Charles Grimes, gespielt von Morgan Freeman - mit dem Judd schon in dem Thriller "Kiss the Girls" ein fabelhaftes Paar abgab. Grimes ist seit langem aus dem Anwaltsbusiness raus, er versucht sich vom Alkohol fern zu halten und konsumiert deswegen unmäßig viel TV. Als Claire ihn erstmals besucht, könnte man ihn auch für einen Zuhälter halten, aber sein "I love being the wild card" klingt i mmer noch hinreißend, und sein goldener Ohrring funkelt irrsinnig dabei.

Es geht um Solidarität in diesem Film und um Selbstachtung. Um die Grenze zwischen Profession und Prostitution, und wie man sie immer wieder überschreitet, ohne es zu merken. Carl Franklin, der als Schauspieler und Regisseur Erfahrungen hat mit dem Mittelstand wie mit dem Militär, filmt Ashley Judd in Situationen in der großen Stadt, da wirkt sie wie eine Edelnutte. Im Aufzug macht sie sich an einen General ran, Bruce Davison, um ihn zu erpressen, und wenn ihr gar nichts anderes mehr einfällt, arrangiert sie sich auch mit der Pressemeute.

Die unnachahmliche Ashley Judd, das verlorene Südstaatenmädel, das in jeder Rolle Echos an Scarlett anklingen lässt, lernt die Demut in diesem Film. Ein Film der Gewalt, der physisch brutalen, wie die Frauen sie erfahren durch die Blicke und Hände der Männer, aber auch der Deformation, die die Frauen selbst sich antun, um den Bildern zu entsprechen, die sie von sich vermitteln möchten. Ein verstörender kleiner Film aus der Vertigo-Stadt San Francisco. HIGH CRIMES, USA 2002 - Regie: Carl Franklin. Buch: Yuri Zeltser, Cary Bickley, nach dem Roman von Joseph Finder. Kamera: Theo van de Sande. Musik: Graeme Revell. Schnitt: Carole Kravetz-Aykanian. Mit: Ashley Judd, Morgan Freeman, Jim Caviezel, Adam Scott, Amanda Peet, Bruce Davison, Tom Bower, Juan Carlos Hernández, Michael Gaston, Jude Ciccolella, Emilio Rivera. Twentieth Century Fox, 115 Minuten.

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