Im Kino: "Milk":Unser Freund Harvey

Lesezeit: 4 min

Vom Versicherungskaufmann zum schwulen Märtyrer der Bürgerrechtsbewegung: Gus Van Sant erzählt die Geschichte des Politikers Harvey Milk, der von einem konservativen Kollegen erschossen wurde.

Rainer Gansera

Am 27. November 1978 wurde San Franciscos demokratischer Stadtrat Harvey Milk im Rathaus erschossen, zusammen mit dem Bürgermeister George Moscone. Der Täter: Milks Konkurrent, Ex-Stadtrat Dan White. Ein Jahr vor dem Attentat sprach Milk sein "Testament" auf Band: "Dieses Tonband soll nur im Fall meiner Ermordung abgespielt werden. Ich bin mir völlig im Klaren darüber, dass jemand wie ich, ein Aktivist der Schwulenbewegung, zur Zielscheibe für jemanden werden kann, der innerlich verunsichert, erschreckt, ängstlich oder verwirrt ist." Das Täterprofil ist prophetisch genau beschrieben.

Sean Penn als Lokalpolitiker Harvey Milk. Der erste offen schwule Stadtpolitiker in San Francisco wurde 1978 zusammen mit dem Bürgermeister der Westküstenstadt von einem konservativen Kollegen erschossen. (Foto: Foto: dpa)

Vom angepassten Versicherungskaufmann zum ersten offen schwulen Volksvertreter und weiter zum Märtyrer der Bürgerrechtsbewegung - diese Reise erzählt Gus Van Sants "Milk". Ein Biopic, ein begeisternder Film: poetisch und politisch, lebendig flirrend, auf Hoffnung setzend, Liebesgeschichte und Chronik eines politisch-kulturellen Kampfes. Van Sant gelingt ein fein austarierter Balanceakt zwischen dem persönlichen Aufbruch Milks und dem Aufbruchsgeist der siebziger Jahre, der nicht nur nostalgisch erinnert, sondern auch als Verpflichtung für aktuelle Kämpfe aufgerufen wird.

Getragen wird der für acht Oscars nominierte Film von einem wunderbaren Sean Penn, der einmal nicht die für ihn so typische dunkel brodelnde Figur verkörpert, sondern sich in ein liebenswürdiges, offenes Wesen wundersam hineintastet. Dieser Harvey Milk wird in San Francisco zur Galionsfigur der Schwulenbewegung und zum nationalen Symbol. Aber er taugt nicht für triumphalistische Gesten. Wenn er die Faust emporreckt, dann zeigt Sean Penn das nicht als Kampfpose, sondern als etwas Verspieltes, Zögerliches: mehr ein Winken, Ausdruck kindlicher Freude.

Prolog in New York 1970, Harvey als adrett gekleideter Businesstyp. An einer U-Bahn-Station erspäht er einen hübschen, blondgelockten jungen Mann (James Franco), erzählt ihm, dass er Geburtstag habe, landet mit ihm im Bett und gesteht: "Jetzt bin ich vierzig und habe noch nichts getan, auf das ich stolz sein könnte!". Zwei Jahre später leben sie in San Franciscos Castro-Street, eröffnen ein Fotogeschäft - und den politischen Kampf.

Harvey hat sich in einen Hippie verwandelt, trägt lange Haare, Bart, lässige Klamotten. An der Ladentür hängt das Schild: "The door is always open." Auch die Straße wird zum öffentlichen Raum: Versammlungen, Partys, Demonstrationen. Castro Street ist das Epizentrum der aufkeimenden Schwulenbewegung, der fröhlichen, basisdemokratischen Lasst-hundert-Blumen-blühen-Anarchie. Dreimal kandidiert Harvey für den Stadtrat. Beim vierten Anlauf schafft er es, wird der erste bekennende Schwule in einem öffentlichen Amt - und macht klar, dass er sich nicht nur für die Gay-Community einsetzt, auch für Behinderte, Senioren und andere kommunale Anliegen.

In Robert Epsteins brillanter, oscargekrönter Dokumentation "The Times of Harvey Milk" (1984 gedreht, jetzt als Wiederaufführung zu sehen), aus der "Milk" vieles an Archivmaterial, Inspiration und Haltung bezieht, erzählt ein Gewerkschaftsvertreter davon, wie die persönliche Begegnung mit Harvey Milk sein Weltbild, Schwule betreffend, völlig umgestürzt habe. Zuvor sei er mit seinem Umfeld in der Verachtung der Schwulen bedenkenlos einig gewesen, danach habe er sich für die in der amerikanischen Gesellschaft tief verankerte Homophobie nur noch geschämt.

Harvey überzeugt mit Witz, Charme, strategischem Geschick und seinem Einsatz für die Unterpriviligierten. Das streicht Gus Van Sant in schöner Deutlichkeit heraus, aber er formt kein Heiligenbild - und zeigt auch immer wieder den Preis, den Milk für seine Mission bezahlen muss: Wenn er für die befreite Lust, für die er einst antrat, gar keine Zeit mehr hat und auf dramatische Weise seinen Lover verliert; oder wenn er Weggefährten und Unterstützer fast rücksichtslos dazu zwingt, "endlich die Wahrheit zu sagen" - was auch für das schmerzhafte Outing gegenüber den eigenen Eltern gilt.

Doch es bleibt keine Wahl - die Kräfte des Hasses schlagen zurück. 1978 bringen christliche Konservative die "Proposition 6" in Kalifornien zur Volksabstimmung - was ein Berufsverbot für Schwule und Gay-Rights-Unterstützer an öffentlichen Schulen bedeuten würde. Im Kampf gegen die verbohrten, bigotten Fundamentalisten läuft Harvey Milk zu großer Form auf und erringt seinen wichtigsten politischen Sieg.

Jemand, der die Pistole zieht

Als "Milk" in den US-Kinos startete, entschieden die Wähler in Kalifornien gerade über "Proposition 8", das Verbot gleichgeschlechtlicher Ehen - und stimmten mit Mehrheit dafür. Ähnliche Volksabstimmungen in Arizona und Florida hatten ebenfalls Erfolg.

Gus Van Sant, dessen letzte Filme ("Elephant", "Last Days") Todestrip-Szenarien experimentell und düster-beklemmend ausmalten, legt "Milk", so an, dass das Historisch-Biographische kraftvoll ins Heute wirkt: als Weckruf, einmal errungene Freiräume nicht wieder zu verspielen. US-Kritiker nannten "Milk" den "ersten Film der Obama-Ära". Hat nicht auch Barack Obama, wie Milk, als Bürgerrechtler und Community Organizer begonnen?

Seine größte dramatische Spannung bezieht "Milk" aus dem Duell zwischen dem vom Bürgermeister unterstützten Harvey und seinem Stadtrats-Kollegen und späteren Mörder Dan White (Josh Brolin). White wird nicht als homophober Fanatiker dargestellt. Sein Männlichkeitsbild ist das patriarchalisch-dominante, in traditionellen "Familienwerten" verankerte. Er sucht zuerst Harveys Nähe, und es wird angedeutet, dass in ihm verdrängte homoerotische Neigungen rumoren könnten. Seine Welt bricht zusammen, als im Stadtrat plötzlich die Koalition aus einem Schwulen, einer Frauenrechtlerin, einer Afroamerikanerin und einem Chinatown-Vertreter das Sagen hat. So wird aus ihm dieser "verunsicherte, erschreckte, ängstliche und verwirrte" Jemand, der die Pistole zieht.

In seinem "Testament" sagte Harvey Milk: "Wenn eine Kugel mein Gehirn durchschlägt, lass sie alle verschlossenen Türen durchschlagen". Für den 34-jährigen Drehbuchautor Dustin Lance Black war dieser Satz der entscheidende Ansporn. Es gibt noch viel zu viele verschlossene Türen - auch solche, die Harvey Milk einst einen Spalt weit öffnen konnte, und die dann wieder zugeschlagen wurden.

MILK, USA 2008 - Regie: Gus Van Sant. Buch: Dustin Lance Black. Kamera: Harris Savides. Musik: Danny Elfman. Mit: Sean Penn, Emile Hirsch, Josh Brolin, Diego Luna. Constantin, 128 Minuten.

THE TIMES OF HARVEY MILK, USA 1984 - Regie: Rob Epstein. Buch: Epstein, Judith Coburn, Carter Wilson. Salzgeber, 90 Minuten.

© SZ vom 18.2.2009/korc - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: