Im Kino: "Lichter":So zärtlich war die Nacht

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Grenzgänger, Illusionskünstler, Außenseiter - der Film "Lichter" von Hans-Christian Schmid basiert auf einem Zeitungsartikel über Menschenschmuggler. Doch bei Schmid werden vor allem große Gefühle und Hoffnungen geschmuggelt.

FRITZ GÖTTLER

Am Anfang ist es wie in der Prärie, da hat die Grenze, um die es geht in diesem Film, etwas von amerikanischem frontier. Ein Zug braust durch die Ebene, Warschau-Berlin, ein Mädchen auf einem Mofa taucht auf dem Feldweg daneben auf, eine Parallelfahrt wie einst bei den Reitern der Jesse-James-Gang oder einer Horde Apachen. Ein Junge steht am Zugfenster, und als die Zollbeamten auftauchen im Waggongang, holt er ein paar Pakete aus seiner Tasche, schmeißt sie zum Fenster hinaus. Zigarettenschmuggel, der Alltag an der deutsch-polnischen Grenze. Kurz darauf trifft er das Mädchen, das die Pakete aufgesammelt hat neben dem Bahndamm.

Maria Simon in "Lichter" (Foto: SZ v. 31.07.2003)

Ein Zeitungsartikel hat Hans-Christian Schmid und seinen Koautor Michael Gutmann bewegt zu diesem Film, zu einer Suche nach Geschichten im Grenzland an der Oder, zwischen Frankfurt und Slubice, dem immer noch reichen Westen und dem heruntergekommenen Osten. "Da war die Rede von Menschen, denen man versprochen hatte, sie seien kurz vor London, als man sie aus dem Lastwagen steigen ließ, in dem man sie durch die Ukraine und Polen transportiert hatte. Tatsächlich setzte man die Gruppe in einem Waldstück in Polen ab, kurz vor der Grenze nach Deutschland."

Ein Film über den illusionären Charakter von Fluchtbewegungen, über den beschwerlichen, gefährlichen Transport von Gefühlen und Hoffnungen. Schon in der Actionszene mit dem Zug spürt man, da sind zwei, die gemeinsame Sache machen, und der Junge hofft, es könnte auch um Liebe gehen dabei. Man muss an die frühen Filme der Nouvelle Vague denken, die "400 Coups" von Truffaut oder die "Bande à part" von Godard, und an die Rebellenfilme der amerikanischen Depressionsjahre, von King Vidor oder Nicholas Ray, die sie beeinflusst hatten.

Später kommt ein zweiter Junge dazu, in der Schmugglerbande, ein Bruder, ein Rivale, und auch ein Vater, der das Kassenbuch führt und unbedingten Gehorsam verlangt, der den Gürtel abschnallt und brutal zuschlägt, um die Jungen zu strafen. Es ist etwas Wildes, Archaisches in den meisten Szenen - die Gesellschaft bricht auseinander, aber die Menschen können noch nicht lassen von vertrauten Verhältnissen und Beziehungen.

Es gibt vielfältige Spiegelungen und Echos zwischen den fünf verschiedenen Geschichten, man kann ihnen nachspüren im Drehbuch von Hans-Christian Schmid und Michael Gutmann, erschienen im Verlag der Autoren. Die simple Story von Kolja, dem Jungen aus der Ukraine, der von der Grenzpolizei geschnappt wird, der flieht und mit Hilfe der Dolmetscherin Sonja den Weg nach Berlin schafft. Die Story vom naiven Taxifahrer Antoni, der seiner Tochter das Kommunionskleid besorgen und einer jungen Kleinfamilie über die Oder helfen will. Die kleine Familienbande der Zigarettenschmuggler, deutsche Hillbillies. Und Philip, ein junger Architekt, der vom ersten großen Projekt träumt, einem Abschreibungsding in der Prärie. Und Ingo, der einen Matratzenladen eröffnet in Frankfurt, und einfach nicht einsehen will, dass dies keine Zukunft hat.

Erzählt wird hier ohne Gefühlsduselei, ohne den pompösen Anspruch, den die Kinomoralisten so gern kultivieren. Ganz dicht rückt die Hand-Kamera von Bogumil Godfrejow an die Menschen heran, damit man keine Distanz hat, um Abstand zu gewinnen, die Sicherheit eines festen Urteils. Filme, das ist das Gedächtnis, hat Godard geschrieben, 1965 in den Cahiers, in einem Text über den geistigen Bruder Truffaut: "Woher kommt es, daß Wildheit und Zärtlichkeit immer gemeinsame Sache machen ... daß die Technik Schwester der Emotion ist ... und die Notwendigkeit die der Freiheit ..."

Einen Sinn für die Freiheit entwickeln vor allem die Frauen in diesem Film, sie sind nüchtern und pragmatisch, was ihnen immer wieder den Vorwurf der Leichtlebigkeit einbringt. Es wird gestohlen und betrogen, und es sieht manches aus nach Prostitution. Aber irgendwie geht es vor allem darum, dass man am Ende die Augen öffnet und die Lichter sieht in der Ferne - deshalb ist auch der Diebstahl von Sonjas Kamera ein Akt der Befreiung, Kolja weiß, er muss die Hochhäuser am Potsdamer Platz filmen, denn das ist Berlin, das wirkliche Berlin.

Willkommen in der Wirklichkeit, wird Philip am Ende von seinem Chef bedeutet, und seine Illusionen von der Liebe gehen zu Bruch wie die Glasfassade, die er für die neue Fabrik entworfen hat. Willkommen in der Wirklichkeit, das darf man nicht übersetzen mit einem lapidaren "Aufgewacht!" - der Film widmet sich dem Ineinander von Wirklichkeit und Traum. Und dass die wirklichen Träume die sind nach dem Aufwachen.

In den amerikanischen Filmen ist die Grenze eine Vision, eine unsichtbare Linie. Am Ende sind wir wieder in der Prärie, Philip sitzt in seinem Auto, müde ist er im Morgengrauen hinter dem Steuer eingeschlafen. Das Mädchen, das er liebte und das eben die Nacht mit den Geschäftsfreunden verbrachte, kommt mit der Freundin aus dem Haus. Eine Müdigkeit, erschöpfte Heiterkeit ist da. Aus der Ferne kommt das Taxi, das sie zurückbringt in die Stadt.

LICHTER, D 2003 - Regie: Hans-Christian Schmid. Buch: Hans-Christian Schmid, Michael Gutmann. Kamera: Bogumil Godfredjow. Musik: The Notwist. Schnitt: Hansjörg Weissbrich. Mit: Zbigniew Zamachowski, Maria Simon, Devid Striesow, August Diehl, Sebastian Urzendowsky, Herbert Knaup, Henry Hübchen. Prokino, 100 Minuten.

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