im Kino: "Just A Kiss":Die Raffinesse des Sozialarbeiters

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Der Film beginnt mit einem Paukenschlag .... um sich langsam zu steigern. Dabei wird doch eigentlich nur eine Liebesgeschichte verhandelt. Klar, dass einem so der Kopf verdreht wird.

MARTINA KNOBEN

Wer hätte gedacht, dass Ken Loach einmal einen Liebesfilm macht! Seit den Sechzigern erzählt er von alleinerziehenden Müttern, Arbeitslosen und Außenseitern, in Filmen, die schon mal mit dem Begriff "Spülsteinrealismus" bedacht werden.

Der Teufel steckt im Detail, deshalb hat Loach diese Beziehung sehr präzise und ausführlich durchbuchstabiert. (Foto: N/A)

Der neue, "Just a Kiss", ist erfrischend anders, hat eine unerwartete Leichtigkeit. Wer Ken Loach allerdings für einen filmischen Sozialarbeiter gehalten hatte -- und das sind nicht wenige -- hatte schon in früheren Filmen deren formale Raffinesse übersehen.

Allein sein Umgang mit Musik . . . "Just a Kiss" beginnt mit einem Paukenschlag. Besser als in dieser Eröffnungssequenz lässt sich eine Patchwork-Identität kaum darlegen. Da steht eine Schülerin vor ihrer Klasse und fordert, Muslime nicht auf ihre Religionszugehörigkeit zu reduzieren: Sie sei eine Pakistani, die in Glasgow lebt, muslimischer Herkunft, Fan der Glasgow Rangers und Schülerin einer katholischen Oberschule. Und schon hat sie ihre Schuluniform aufgeknöpft und entblößt ein Rangers-Trikot. Ein starker Auftritt ist das und ein gelungener Coup -- weil das hübsche Mädchen gar nicht die Hauptperson ist . . .

In Filmen wie "Bend It Like Beckham" von Gurinder Chadha oder "Real Women Have Curves" von Patricia Cardoso sind die Fronten klar. Da werden mutigen Mädchen von ihren Familien die selbstverständlichsten Dinge verboten -- und wer da nicht zu den Mädchen hält, hat kein Herz. In "Just a Kiss" liegt die Sache schon deshalb anders, weil nach Taharas fulminantem Auftritt ihr Bruder Casim in den Mittelpunkt der Geschichte rückt. Als einziger Sohn der Familie wird er vergöttert und genießt jede Menge Freiheiten. Wenn er also später in Konflikt mit seinen Eltern gerät, geht es nicht um Kleinigkeiten, und er hat nicht automatisch alle Sympathien.

Casim ist seiner Schwester durch die ganze Schule gefolgt, bis ins Musikzimmer, wo eine Lehrerin einem Mädchen Gesangsunterricht gibt. "Ae fond kiss, and then we sever / Ae fareweel, and then for ever. . .", singt das Mädchen. Und Casim hat sich plötzlich verliebt.

Mit einem Paukenschlag hatte der Film begonnen, dann dieses Lied. Nach musikalischen Prinzipien hat Ken Loach diese Sequenz komponiert. Und es ist die Musik, die hier eine irische Katholikin und den Sohn eines pakistanischen Ladenbesitzers zusammenbringt. Für aussichtslose Kämpfe, für Menschen, die keine Chance haben und dennoch strampeln ums Überleben, hat sich der Regisseur schon immer interessiert.

Eva Birthistle in der Rolle der Musiklehrerin Roisin ist wie ein frischer Wind in diesem Film. So hellhäutig und blond, sexy und freiheitsliebend -- wie könnte Casim sich nicht in sie verlieben! Und Casim mit seinen schwarzen Haaren, dunklen Augen, gebräuntem Körper ist so schön und so fremd, so begehrenswert für Roisin! Atta Yaqub, der Casim spielt, arbeitet auch als Model -- er ist der erfahreneren Schauspielerin Eva Birthistle nicht ganz gewachsen, sie strahlt mehr Energie aus und dominiert das gemeinsame Spiel. Was allerdings zur Beziehung der beiden passt, Casim liebt nämlich mit angezogener Handbremse. In einigen Wochen soll er seine Cousine heiraten. Eine "Goree", eine Weiße als Freundin oder Ehefrau wäre für seine Eltern undenkbar.

Ist eine flüchtige Liebesbeziehung den Clash der Kulturen wert? Den Streit mit der Familie? Den Stress am Arbeitsplatz? "Noch ein Kuss -- dann sei geschieden. . ." Manche werden die Liebe der beiden von vornherein für unmöglich halten, andere mit affirmativer Blindheit ein Happy End fordern. Der Teufel steckt jedoch bekanntlich im Detail, deshalb hat Loach diese Beziehung sehr präzise und ausführlich durchbuchstabiert.

Und wie in früheren Filmen hat er auch diesmal Darsteller gefunden, die ihre eigenen Erfahrungen und Verletzungen in ihre Filmbiografien hineintragen. Unsere Sympathien gehören vor allem Casims Vater, den Ahmad Riaz als einen herzzerreißenden Kauz und Tyrannen spielt. Traumatisiert von der indisch-pakistanischen Teilung fühlt er sich zu alt, eine weitere Spaltung zu überleben. Und blickt am Ende auf eine im Grunde zersplitterte Familie, in der sich jeder unterschiedlich stark vom indischen Erbe distanziert.

AE (sic!) FOND KISS, E/D/I/Sp/B 2004 -- Regie: Ken Loach. Buch: Paul Laverty. Kamera: Barry Ackroyd. Schnitt: Jonathan Morris. Musik: George Fenton. Mit: Eva Birthistle, Atta Yaqub, Ahmad Riaz. Neue Visionen, 103 Minuten.

© SZ v. 12.11.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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