Im Kino: "21 Gramm":Die Hölle? Sind wir.

Alejandro González Iñárritus Film hat einen Film wie in Trance geschaffen. Eine präzise, meisterhafte, somnambule Beschwörung, ein Essay über jenes Unfassbare, das man Leben nennt.

Von Tobias Kniebe

Wie fühlt es sich an, wenn die Welt sich auflöst? Wenn die Beine einfach weiterlaufen, obwohl sie nicht weiterlaufen dürften; wenn der Mund redet, obwohl er verstummen müsste; wenn die Augen schauen, obwohl es nichts mehr zu sehen gibt - fühlt man sich so, wenn man erfährt, dass man bald sterben wird? Ein traumgleicher Zustand könnte das sein, eine winzige Verschiebung der Wirklichkeit, für Fremde kaum wahrnehmbar, der Übergang von einer Welt in die andere, vom Reich der Lebenden ins Reich der Toten.

21 Gramm

Sean Penn als Paul Rivers und Naomi Watts als Christina Peck "21 Gramm".

(Foto: Foto: ddp)

Oder die Zeit. Würde sie aufhören, den Anschein einer Kontinuität zu erzeugen, sich nicht mehr fortbewegen in die Zukunft, sich auflösen in ein Puzzle aus Erinnerungen, aus Möglichkeiten, aus Wenns und Vielleichts? Fühlt es sich so an, wenn man die Menschen, die man am meisten liebt, gerade verloren hat? Wenn man drei Unschuldige getötet hat, bei einem Unfall, mit dem man nicht weiterleben kann? Wenn man dem eigenen Schicksal begegnet ist, Auge in Auge, und nichts mehr so sein wird wie zuvor?

"21 Gramm" handelt von dieser Stimmung - und von nichts anderem. Eine präzise, meisterhafte, somnambule Beschwörung, ein Film wie in Trance, ein Essay über das Unfassbare. Die meisten der Gefühle, um die es geht, werden wir Zuschauer wahrscheinlich - hoffentlich - nie kennenlernen. Und doch kennen wir einen Teil davon, genug um zu wissen: So muss es sein. So fühlt man sich in den Stunden, Tagen und Wochen nach einem unfassbaren Verlust, nach dem Tod eines geliebten Menschen, so muss man sich fühlen mit der Bürde einer unerträglichen Schuld, im Angesicht der Frage, ob das Leben jemals weitergeht.

So muss sich auch der Regisseur Alejandro González Iñárritu nach dem Tod seines Kindes gefühlt haben, das zwei Tage nach der Geburt gestorben ist. Seine Widmung am Ende gilt seiner Frau Maria Eladia, eine vage Beschwörung der Hoffnung. Ansonsten hat er fast nichts über seine Motivation gesagt. Sie ist aber auch so zu spüren, in jedem Bild und jedem Blick. Eine Traurigkeit durchzieht diesen Film, von der es keine Erlösung gibt.

Es geht nicht um die Reihenfolge der Ereignisse in solchen Momenten. Und nicht um die Chronologie der Fakten. Denn diese erscheinen ohnehin unverständlich - zufällige, sinnlose Akte der Zerstörung, das Würfelspiel einer höheren, mitleidlosen Macht. Deshalb ist "21 Gramm" ohne jede Chronologie geschnitten, ein Verwirrspiel, das sich erst ganz am Ende auflöst. Man ahnt den Ablauf der Ereignisse mehr, als dass man ihn wirklich versteht, aber darum geht es nicht. Es geht darum, schon im ersten Bild den Schmerz zu spüren: Ein Paar nach der Liebe, sie schläft, er betrachtet ihren Rücken und raucht stumm.

Eine friedliche Szene, aber es liegt schon etwas Verstörendes darin. Wir werden diesen beiden Figuren folgen - und einer dritten. Ihre Wege werden sich kreuzen: Die Mutter (Naomi Watts), die ihren Mann und ihre beiden Töchter verliert; der Todgeweihte (Sean Penn), der auf eine Herztransplantation wartet; der Verdammte (Benicio Del Toro), der einen Unfall verschuldet und mit dieser Schuld nicht leben kann. Man denkt sich bald, wie ihre Schicksale zusammenhängen. Wichtiger aber ist, dass sie sich in derselben Lage befinden: In einem Zwischenreich, in einem schrecklichen Traum, in einem Leben, das einfach weitergeht.

In Wirklichkeit steckt sehr viel Arbeit in dieser Struktur - das Drehbuch von Guillermo Arriaga ist voll von subtilen Hinweisen, die eine Einordnung der Szenen überhaupt erst möglich machen. Das Schöne aber ist, dass man das alles nicht spürt. Man verfällt ganz der Stimmung des Films und den Schauspielern, und am Ende sind es großartige Schauspielermomente, die im Gedächtnis bleiben.

Benicio Del Toro zum Beispiel spielt einen Mann, der spät im Leben zur Religion gefunden hat, er klammert sich daran wie an einen Rettungsanker, und nun wird er vom Pastor seiner Gemeinde im Gefängnis besucht. Er hadert mit Jesus, zitiert Bibelstellen vom rächenden und mitleidlosen Gott - und als der Pastor erregt erwidert, dass man für solche Gedanken in die Hölle kommt, schaut Del Toro einen Moment fast mitleidig. Dann rammt er sich beide Hände gegen die Schläfen. "Die Hölle? Das ist die Hölle. Hier drin."

Naomi Watts und Benicio Del Toro sind beide für ihre Leistungen in "21 Gramm" für den Oscar nominiert - und Sean Penn nur deshalb nicht, weil er für Clint Eastwoods "Mystic River" ins Rennen geht. Für seine Darstellung hier - fast noch besser, ungewöhnlicher für ihn, mehr nach innen gerichtet - hat er bereits den Schauspielerpreis in Venedig gewonnen. Für die Chance, mit solchen Schauspielern zu arbeiten, sind Alejandro González Iñárritu, sein Autor Arriaga und sein Kameramann Rodrigo Prieto in die USA gegangen.

In Mexico City hatten sie "Amores Perros" gemeinsam gedreht, ihren ersten, weltweit beachteten Film, der ihr Talent aggressiv zur Schau stellte. Ein gewisses Protzen mit den eigenen Möglichkeiten ist auch hier noch manchmal zu spüren, vielleicht der einzige Schwachpunkt dieser ansonsten sehr reifen Arbeit. Von den Versuchungen Hollywoods, von einer Anpassung an amerikanische Muster ist aber nicht das Geringste zu bemerken.

Eher wagt der Film etwas ganz Neues: die Auflösung des Melodrams in der Zeit. Hätte Iñárritu seine Geschichte chronologisch erzählt, dann wäre sie vielleicht ein klassischer Malstrom der Gefühle geworden, der den Zuschauer zu einem unausweichlich pessimistischen, tränenreichen und dennoch seltsam befriedigenden Ende hinabzieht.

Darin steckt aber, genau wie in der Struktur des geordneten Flashbacks, auch ein Stück Ideologie: Dass da eine Vorsehung am Werk sei, dass bestimmte Handlungen unausweichliche Folgen nach sich ziehen, dass alles so kommen musste, wie es kommt. Daran glauben Iñárritu und Arriaga nicht, deshalb lösen sie die Strukturen auf. Jeder Mensch verliere im Augenblick des Todes genau 21 Gramm Gewicht, erzählt Sean Penn am Ende - diese nie wissenschaftlich belegte These gibt dem Film den Titel. Die letzte Einstellung zeigt den leeren Swimmingpool eines gottverlassenen Motels am Rande der Wüste. Müll und Autoreifen liegen darin herum. Es schneit. Wohl dem, der jetzt noch Heimat hat.

21 GRAMS, USA 2003 - Regie: Alejandro González Iñárritu. Buch: Guillermo Arriaga. Kamera: Rodrigo Prieto. Schnitt: Stephen Mirrione. Musik: Gustavo Santaolalla. Mit: Sean Penn, Benicio Del Toro, Naomi Watts, Charlotte Gainsbourg, Melissa Leo. Constantin, 125 Minuten.

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